Es fühlt sich fast so an wie im Urlaub: auf einem bequemen Sessel sitzen und durch eine Panoramascheibe direkt in den Himmel schauen. Wenn dieser nur blau statt grau wäre. Und wenn der unter dem Sessel werkelnde 13-Liter-Sechszylinder nicht für leichte Vibrationen und die aus dem Job vertraute Geräuschkulisse sorgen würde.
Aber auch ohne Urlaub sind rund 60 Prozent Steigung schon eine Ansage und sorgen für ungewohnte Perspektiven beim Blick durch die Windschutzscheibe des Test-Kippers, eines Arocs 4151 AK 8X8/4 von Mercedes-Benz. Das Fahrzeug hängt so schräg in der Steigung, dass der Blick nicht auf die Straße fällt, sondern gen Himmel gerichtet ist.
Auf einem Geländeparcours vor den Toren des Lkw-Werks im pfälzischen Wörth am Rhein haben wir die Möglichkeit, verschiedene Baufahrzeuge von Mercedes-Benz zu fahren.
Sicher würden die 510 PS und 2500 Newtonmeter unseres Exemplars die Fuhre auch ohne zusätzliche technische Unterstützung über die wenige Meter hohe Kuppe hieven. Aber so entspannt und vor allem so feinfühlig wie mit der im Testwagen verbauten Turbo-Retarder-Kupplung (siehe Kasten Seite 36) wäre das Auto am Berg nicht zu bewegen.
"ABSEILEN" MIT DEM LKW NACH WENIGEN SEKUNDEN KLAPPT ES
Bei dem System schließt beim Anfahren nicht direkt die mechanische Kupplung, sondern der hier zur Kupplung gehörende Voith-Retarder übernimmt das Anfahren - ganz ohne Reibung und Verschleiß. Mit der Turbo-Retarder-Kupplung, kurz TRK, lässt sich das Auto nicht nur in der Ebene sanft und verschleißfrei anfahren oder rangieren, sondern vor allem auch an Steigungen, die sonst zur Zerreißprobe für die Kupplungsscheiben werden können.
Wer will, kann nach wenigen Sekunden Übung den beladenen Arocs bei eingelegtem Vorwärtsgang an Steigungen nur mit dem Gasfuß auf der Stelle halten oder ihn langsam ohne Einsatz der Betriebsbremse rückwärts "abseilen". So lässt sich Schüttgut gleichmäßig verziehen und auf der Baustelle oder in der Kiesgrube jeder Be- und Entladepunkt millimetergenau anfahren.
Zu viel Spieltrieb sollte der Fahrer mit dem System aber auch nicht entwickeln. Nach ein paar Versuchen signalisiert bei unserem Test-Arocs ein Piepton, dass es der TRK langsam zu warm wird.
Mercedes vermarktet das System für Baufahrzeuge, die schwere Lasten bewegen müssen, als Alternative zur Kombination aus Zweischeibenkupplung mit Retarder. Dann wird für die TRK ein Aufschlag von etwa 10.000 Euro fällig. Bei Fahrzeugen ohne diese beiden Extras fällt die Differenz ungefähr doppelt so hoch aus. Als Ausgleich wirbt der Stuttgarter Lkw-Bauer mit Verschleißfreiheit und einem höheren Wiederverkaufswert der Fahrzeuge mit TRK. Im laufenden Jahr hat Mercedes nach eigenen Angaben etwa 500 Autos mit dem System ausgeliefert.
Da das Anfahren mit schleifender Kupplung entfällt, kann sie laut dem Hersteller im Arocs auch bei höchster Motorisierung und großen Lasten als Einscheiben-Trockenkupplung ausgelegt werden. Das Mehrgewicht der Turbo-Retarder-Kupplung beläuft sich auf rund 120 Kilogramm. Im Vergleich zu einer Zweischeiben-Trockenkupplung bringt die TRK 78 Kilo mehr auf die Waage.
FLACHDACH-FAHRERHAUS ERLEICHTERT DURCHFAHRTEN
Höher sollen auch die Verkaufszahlen wieder werden. Auf einen Marktanteil von 43 Prozent kommt der Arocs im Bausegment derzeit nach Angaben von Andreas Schmid, Vertriebsleiter für Mercedes-Benz-Lkw in Deutschland. Offizielle Zahlen gibt es für das Segment nicht. Nahe 50 Prozent waren es einmal und da will die Marke mit dem Stern laut Schmid bald wieder hin. Helfen sollen dabei unter anderem ein paar Neuerungen am 2013 in den Markt eingeführten Arocs.
Wenn sich der Arocs auf Baustellen oder in Tunneln klein machen muss, bietet sich seit Kurzem das Fahrerhaus ClassicSpace LowRoof in M- und L-Ausführung mit 2300 Millimeter (mm) Breite an. Es ist 100 mm niedriger als die ursprüngliche Variante. In der Kombination Motor OM 470 (11 Liter), Motortunnel 320 mm und ClassicSpace LowRoof sinkt die Dachhöhe um 280 mm. Allerdings vermittelt die niedrige Kabine dem Fahrer eher das beengte Gefühl eines Pkw statt des typischen Raumgefühls eines Lkw-Fahrerhauses (siehe Test im TRUCKER 1/2018).
Laut Schmid ist der OM 471 in der 450-PS-Einstellung das am häufigsten bestellte Aggregat im Arocs. Dennoch erhielten sowohl der 11-Liter- als auch der 13-Liter-Motor eine zusätzliche neue höchste Leistungsstufe. Der OM 470 leistet damit 456 PS und 2200 Newtonmeter, der OM 471 kommt auf 530 PS und 2600 Newtonmeter. Zudem wurde der Antriebsstrang überarbeitet und soll drei Prozent sparsamer laufen - bei den Geländefahrten konnten wir das nicht testen.
Für ein Plus an Sicherheit sorgt der ab 2018 in 13 zusätzlichen Baumustern des Arocs erhältliche Abbiegeassistent. Er verringert für den Fahrer die Gefahr von Rechtsabbiegeunfällen auf dem Weg zu innerstädtischen Baustellen.
Auf der Fahrt in der Baustelle ist ein anderes Extra hilfreich: die hydraulische Anfahrhilfe "Hydraulic Auxiliary Drive" (HAD). Den Radnabenantrieb an der Vorderachse lernt schnell zu schätzen, wer einmal mit einem unbeladenen Kippsattel über losen Untergrund fahren musste und scheiterte (siehe Kasten oben). Mit dem für die Geländetestfahrten eigens präparierten Sandloch hat das System, wohl auch wegen des zusätzlichen Schmuddelwetters, anfangs etwas zu kämpfen.
SENSOREN STEUERN DIE ZUSÄTZLICHE POWER AN DEN VORDERRÄDERN
Nachdem sich die Hinterräder des Arocs 1846 LS 4X2 festgefahren haben, kommt die Rettung per Knopfdruck. Mit dem Anspringen des HAD ändert sich die Geräuschkulisse und der Zug wühlt sich, anfänglich mit ein wenig Mühe, aus dem nassen Sand.
Der Zusatzantrieb ist bis 25 Kilometer pro Stunde (km/h) aktiv. Bei höheren Geschwindigkeiten wird der HAD passiv. Sinkt die Geschwindigkeit wieder unter 25 km/h, greift das System automatisch erneut ein und sichert den Vortrieb. Wer will kann damit in den Gängen eins und zwei auch rückwärts fahren. Überschreitet der Lkw eine Geschwindigkeit von 60 km/h, wird HAD automatisch komplett deaktiviert.
Um maximale Traktion zu gewährleisten, werden bei aktiviertem HAD alle Gänge einzeln geschaltet. Durch den Radnabenantrieb bleibt während des Schaltvorgangs die Zugkraft an der Vorderachse erhalten. Wie viel Drehmoment an die Vorderräder gelangt, entscheidet das System über Sensoren abhängig von Schlupf, Fahrzeuggewicht und Neigungswinkel des Lkw.