Von einem "King" erwarten seine Untertanen, dass er Zeichen setzt. Spätestens mit Markteinführung des Actros Gigaspace war Scania-Chauffeuren klar, dass ihr Reich zu den kleinsten in Europa gehört. Mit der neuen Baureihe nimmt Scania den Fehde-Handschuh auf. Die kommenden Kabinen werden länger, höher und verfügen in der neuen R-Baureihe allem Anschein nach über einen ebenen Boden. Der traditionellen Linie mit der an der A-Säule stark gekrümmten Frontscheibe sowie der aufsteigenden Fensterlinie bleibt Scania treu.
TYPISCHE DESIGN-ELEMENTE BLEIBEN BEIM NEUEN
Mit der stark gekrümmten Scheibe zollen die Schweden zwar der Aerodynamik ihren Tribut, die Fahrer kämpfen aber weiterhin mit dem Manko einer leicht verzerrten Sicht an den Ecken. Zumindest investiert Scania in komplett neue Spiegel mit recht voluminösen Gehäusen. Bleibt zu hoffen, dass ein Plus an "Rücksicht" nicht auf Kosten der Rundumsicht geht. Und hoffentlich verstehen sie es in Södertälje, mal Spiegel zu bauen, deren Gläser nicht flattern wie Espenlaub im Wind.
Die Schweden wollen sich künftig nicht mehr sagen lassen, dass technische Innovationskompetenz ausschließlich aus Stuttgart komme. Vor allem im Bereich der Fahrerassistenzsysteme will Scania einen großen Schritt machen und an die Spitze ziehen. Dem Vernehmen nach ist die nächste Generation ein erster Step in Richtung automatisiertes Fahren. Das dürfte nicht jedem Fahrer gefallen ...
Immerhin, so verspricht Entwicklungsleiter Dr. Harald Ludanek, "bleibt der Fahrer vorerst die maßgebliche Instanz für Steuerung und Kontrolle." Die künftigen Assistenzsysteme sollen vielmehr die Fahrer bei Spurwechsel, Stau oder Kolonnenfahrt unterstützen, indem sie bestimmte Fahraufgaben übernehmen. Der Fahrer kann sich auf wichtige Vorgänge rund ums Fahrzeug konzentrieren. In der kommenden Fahrzeuggeneration findet sich deshalb eine hohe Systemintelligenz, die Daten aus einer Vielzahl von Kameras, Radar- und Ultraschallsensoren am LKW verarbeiten kann. "Durch das koordinierte Zusammenspiel entsteht gewissermaßen eine elektronische Knautschzone um den LKW", so die Vorstellung von Ludanek.
So bekommt die neue Fahrzeuggeneration ein Spurwechsel-Warnsystem (ASA = Active Side Assistance). Scania zieht mit Volvo gleich, wo es diese Technik bislang exklusiv gibt. ASA arbeitet mit Radarsensoren am Heck und an den Seiten. Optisches Signal für den Fahrer sind zwei vertikal übereinanderliegende schmale LED-Lichtbänder im rechten und linken Spiegel. Der Fahrer kann sich den Spurwechsel-Warner auf den rechten oder linken Fahrstreifen ausrichten. Kommt ein Fahrzeug in den Erfassungsbereich des Radars, zeigen dies grüne LEDs an. Findet sich das andere Fahrzeug auf Höhe des LKW, erfolgt die optische Warnung durch Wechseln der LED-Leiste. Sollte der Fahrer trotz Gefahr die Fahrspur wechseln wollen, tritt ein mehrstufiger Warnmodus in Kraft: Erst blinken alle LEDs rot.
Im zweiten Schritt greift die künftig installierte Überlagerungslenkung ein und zieht mit einem Impuls auf die alte Fahrspur zurück. "Der Fahrer kann dieses Korrektursignal - wenn nötig - aber übersteuern", beruhigt Jon Andersson, Leiter der Abteilung Fortgeschrittene Fahrerassistenzsysteme und Fahrzeug-Automatisierung.
Auch mit dem zweiten Fahrerassistenten eifert Scania der Konkurrenz nach - beim Stauassistenten. Die Schweden nennen dass System etwas sperrig "Automatic driving in traffic jam situations". Jon Anderson erklärt die Funktion folgendermaßen: "Bei Stau aktiviert der Fahrer durch Knopfdruck im Lenkrad einen Stau-Fahrmodus. Ein redundant ausgelegtes Sensorsystem, das alle Verkehrsteilnehmer im Umfeld des LKW wahrnimmt, steuert dann die Bewegung des Fahrzeugs. Der Fahrer kann in der Zeit zum Beispiel E-Mails bearbeiten oder Telefongespräche führen." Andersson lässt offen, inwieweit das mit geltender Rechtsprechung vereinbar ist ...
ALLE STAUINFOS IM VARIABLEN LCD-BILDSCHIRM SICHTBAR
Will sich der Fahrer über die aktuelle Situation im Stau informieren, erhält er alle Infos über eine Statusanzeige im zentralen Display. Darunter die eigene sowie die Geschwindigkeit des Vorausfahrenden. Löst sich der Stau auf, fordert das System ihn oberhalb von spätestens 50 km/h auf, die Regie wieder zu übernehmen. Macht er das nicht, bremst das Fahrzeug mit eingeschalteter Warnblinkanlage.
Die Integration der Fahrerassistenzsysteme sowie zahlreicher anderer Funktionen bedingt eine teilweise Neugestaltung des Arbeitsplatzes. Scania, für seine gute Ergonomie stets gelobt, erfindet das Rad nicht neu. Das Bedienkonzept für das künftig serienmäßige Opticruise-Getriebe verbleibt aller Voraussicht nach im rechten Lenkstockhebel. Auch das Multifunktionslenkrad mit den unten angeordneten Steuertasten für den (Brems-)Tempomat hat sich bewährt. Die jetzt längere Kabine gestattet es den Interieur-Designern, breitere Betten zu installieren - das umständliche Ausziehen der unteren Schlafstatt ist damit endlich ad acta gelegt! Zudem wächst der Längsverstellbereich des Sitzes und mit ihm Neigungswinkel und Höhenverstellung des Lenkrades. Wie man hört, gefällt den Scania-Ingenieuren das Doppelgelenkscharnier von Volvo/Renault recht gut. Es ist also zu erwarten, dass auch im neuen Scania diese Technik für eine noch bessere Anpassung der Lenkradposition zum Einsatz kommt.
Nachdem die Dreipedalversion beim Opticruise-Getriebe immer seltener geordert wird, überlegen die Schweden, diese Option zu streichen. Das würde außerdem Platz schaffen für eine Lenkradverstellung via Fußpedal. Das bewährte Opticruise-Getriebe auf Basis der Synchron-Schaltboxen wird auch den neuen Fahrzeugen noch eine Weile erhalten bleiben. Scania, früher Anhänger kurzer Achsübersetzungen, inzwischen aber bekehrt zu langen Übersetzungen, hat relativ spät angefangen, sich Gedanken über ein Doppelkupplungsgetriebe zu machen.
DIE NEUEN TRUCKS KOMMEN MIT "ALTEM" GETRIEBE
Wie man von Insidern hört, gibt es wohl auch Abstimmungsschwierigkeiten mit MAN, wo eine solches DSG-Getriebe ebenfalls sinnvoll wäre. Bis die gänzlich neuen Getriebe zur Verfügung stehen, muss sich Scania mit einer Technik nach Vorbild "Fast-Shift" von ZF über die Zeit retten. Eine neue Abstimmung der Fahrstufen 10, 11 und 12 mit schnellerem Gangwechsel soll am Berg für möglichst geringe Zugkraftunterbrechungen sorgen. Eco-Roll haben die Schweden bereits im aktuellen Modell noch eingeführt und werden dies weiter verfeinern.
Zum Thema Motorbremse oder Retarder Aussagen zu bekommen, ist schwer. Es ist zu vermuten, dass der Bedarf des Marktes nach niedrigem Gewicht und wenig Verbrauch dafür sorgt, dass sich Scania vom Königsweg Hydrobremse verabschiedet. Dies würde zu einem massiveren Eingriff im Bereich der Zylinderköpfe führen. Denn nur so könnten die Motorentechniker die nötige Ventiltechnik implementieren, um dann mit Hilfe einer Turbobremse adäquate Bremsleistungen zu realisieren.
Mit der neuen Baureihe und einer Stärkung alter Werte muss sich Scania als "King of the Road" die Frage gefallen lassen, ob man Volvo die leistungsmäßige Vorherrschaft überlässt. Theoretisch bietet das Motorenportfolio ausreichend Möglichkeiten der Aufrüstung. Der in einigen Schiffen verbaute V8 leistet bis zu 1000 PS - ist aber von der Charakteristik für LKW ungeeignet. Die Lösung wäre der DI16 072M mit 588 kW oder 800 PS. Der 16,4-Liter-V8 bringt es dank Twinturbo bei noch moderaten 2100 Touren auf standesgemäße 800 Pferdestärken. Das höchste Drehmoment von 3000 Nm liegt bei 1500 Umdrehungen an. Was bescheiden klingen mag, lässt sich in der Praxis sicher noch etwas erhöhen.
Andererseits sind die aktuellen Getriebe gar nicht in der Lage, noch viel mehr Drehmoment zu verkraften. Ein spezifischer Volllastverbrauch von 194 g/kWh bei drei Viertel Last lässt trotz der hohen Leistung noch akzeptable Verbräuche erwarten. Für den normalen Fernverkehr ist der DI16 sowieso überdimensioniert. Sein aktuelles Problem liegt allerdings noch an anderer Stelle: Er erfüllt nur EU Stage IIIA - zu wenig für den Einsatz im Euro-6-LKW. Andererseits verfügt er mit Pumpe-Düse und SCR-System über einige Grundzutaten, die den neuen Scania in bisher ungeahnte Leistungssphären vorstoßen ließen.
Der Erfolg des in der Vorgänger-Baureihe eingeführten 410 PS starken SCR-only-Motors hat heftiges Nachdenken ausgelöst, ob sich so ein sparsames Triebwerk nicht auch eine Leistungsklasse höher etablieren ließe. Zwar steht der 410er gut im Futter und bietet Drehmoment-Bestwerte, die man bei anderen Herstellern erst in der 450-PS-Klasse bekommt. Dennoch greift bei Scania die Mehrzahl der Kunden zum 450er und erfreut sich an noch ein paar Newtonmetern mehr. Weil die Schweden schon immer experimentierfreudig waren, ist ein 450er ohne Abgasrückführung also durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen.
Bereits gesetzt ist ein 450er in Euro 6, der bis zu 100 Prozent Biodiesel verträgt und bei entsprechender Kraftstoffqualität (EN 14214) auch abgastechnisch dafür zertifiziert ist. Bei ausschließlicher Verwendung von Alternativkraftstoff verspricht Scania einen Leistungsabfall von nicht mehr als acht Prozent (ca. 2160 Nm ab 1000/min sowie 415 PS). Um die Schadstoffgrenzwerte zu erreichen, setzten die Motorentechniker bei diesem Triebwerk auf die Kombination aus SCR-Katalysator und Abgasrückführung. Kleiner Wermutstropfen: Bei reinem Biodieselbetrieb steigt der Verbrauch wegen des geringeren Energiegehaltes um bis zu zehn Prozent - wobei auch der Adblue-Verbrauch höher liegt. Dem Vorteil des geringeren CO2-Ausstoßes stehen bei diesem Aggregat auch kürzere Wartungsintervalle entgegen.
Die Motoren werden also "grüner" und auch das Interieur wechselt die Farbe. Statt empfindlicher Brauntöne favorisiert Scania künftig wieder ein "frisches" Grau. Zudem wächst das Staufachvolumen. Und wie man hört, soll's künftig sogar serienmäßige Außenstaufächer geben. Dafür steigt der Preis - Scania bliebt sich also treu.