Wie schnell die Zeit doch voranschreitet: Vor 20 Jahren stellte Mercedes auf der IAA 1996 seine neue schwere Lkw-Baureihe vor, die erstmals den Kunstnamen Actros trug. Dieses Jubiläum feiert Mercedes mit einer schmucken Sonderedition und gab dem TRUCKER die Möglichkeit für einen Vergleich "Alt gegen Neu".
Und der ist für mich als Autor dieses Artikels eine Reise in die Vergangenheit. Schließlich verbrachte ich die meiste Zeit meiner aktiven Fahrerkarriere in einem Actros "first Job", wie es die Mercedes-Leute Marketing-sprachlich nennen. Wobei ich mich Ende der 90er mit dem normalen L-Fahrerhaus begnügen musste (siehe Bild rechts). Der Testwagen verfügt dagegen über die große Megaspace-Kabine, weshalb es beim Einsteigen eine Stufe mehr - insgesamt also fünf - zu überwinden gilt. Übrigens genau so viele, wie bei der hoch gelegenen GigaSpace-Kabine des heutigen Actros.
DER MEGASPACE BIETET VIEL RAUM -AN STAURAUM MANGELT ES ABER
Dass Giga eben eine Steigerung zu Mega bedeutet, bestätigt sich im Innenraum. Klar hätte ich Freudentänze aufgeführt, wenn ich einen der wenigen MegaSpace-Actros in meiner damaligen Firma bekommen hätte. Der ebene Fahrerhausboden verbessert Raumgefühl und Bewegungsfreiheit enorm. Doch anscheinend kam es Mercedes vor zwanzig Jahren ausschließlich auf diese beiden Attribute an. Was die Designer aus dem Platz machten, war zum Großteil einfach Luft. Große Staufächer über der Frontscheibe? Ein großer Kühlschrank? Fällt beides eher mau aus, weshalb der Besitzer dieses MegaSpace lieber gleich zu einem Kühlschrank aus dem Zubehör griff. Bleibt eigentlich nur der Raum unter dem Bett fürs Gepäck. Damit er besser zu erreichen ist, war die Matratze mehrteilig, was bei vielen Fahrern schlecht ankam. Und auch die Konsole rechts neben dem Fahrersitz mit "Schaltwalze", Fensterhebern, Feststellbremse sowie Spiegelverstellung steht nach Feierabend im Weg. Auch wenn der Spiegel sich immerhin elektrisch umklappen lässt.
Kritik, mit der sich der heutige Actros, vor allem in Kombination mit der größten Giga-Space-Kabine, längst nicht mehr aufhält. Über der Frontscheibe nehmen großzügige Staufächer viel Gepäck auf, die Bedienelemente für die Powershift-Schaltung sitzt platzsparend an der Lenksäule und in die Kühlbox passen locker auch 1,5-Liter-Flaschen. Außerdem verdient das untere Bett mit Lattenrost und Komfort-Matratze seinen Namen eher als die 60 Zentimeter schmale Schlafstatt des MegaSpace. Fehlt dem topausgestatteten Testfahrzeug eigentlich nur noch das optionale SoloStar-Konzept, mit Sofa-Lümmelecke anstatt Beifahrersitz ...
Aber vorrangig sind beide Actros ja zum Arbeiten geschaffen, also Triebwerke starten! Beim aktuellen Modell geschieht das sportlich per Druck auf den Startknopf. Den 11,9 Liter großen OM-501-V6 des Actros 1 holt man dagegen per (nicht weniger praktischem) Dreh am Zündschlüssel ins Leben. Man könnte auch sagen, er schüttelt sich wach und bringt im Leerlauf die ganze Kabine ins Wackeln. Und entwickelt dabei diesen unverwechselbaren Sound, der Mercedes-Lkw über Jahrzehnte prägte.
HEUTZUTAGE GEWÖHNUNGSBEDÜRFTIG: KUPPLUNGSPEDAL TRETEN
Fehlt noch ein passender Gang, Stichwort Telligent-Getriebe: Wie ging das noch mal? Den gewünschten Gang - angesichts der 40 Tonnen Gesamtgewicht entscheide ich mich für 2-groß - über Schaltwalze und -wippe (für halbe Gänge) vorwählen. Dann Kupplung treten und aufs Klack-Klack warten, als Bestätigung dafür, dass die Elektronik den Schaltvorgang ausgeführt hat. Dann am besten ohne Gas die Kupplung langsam kommen lassen - die elektronische Einspritzung sorgt dafür, dass der V6 nicht abstirbt. Sobald sich die Fuhre in Bewegung setzt, den passenden Anschlussgang vorwählen (4 groß) und wieder das Kupplungspedal treten. Na also, klappt doch noch, denn ich komme bei 1150 Touren raus, bei denen der 428 PS starke Euro-3-Motor immerhin knapp 340 seiner 428 PS, vor allem aber das volle Drehmoment von 2000 Newtonmetern gegen das Gewicht stemmt.
Was ich von meinem flacheren L allerdings nicht kannte, ist das Aufbäumen, mit dem die weich aufgehängte Kabine jeden Schaltvorgang quittiert. Ebenso wenig hatte meiner diese "Holzfurnier-Fakefolie" um die Armaturen, sondern trug nur die schon in den 90ern nicht ganz geschmackssicher wirkenden bläulichen Kunststoffe, kombiniert mit poppig bunten Sitzbezügen. Und an einen weiteren Schwachpunkt des Actros 1 erinnere ich mich gleich wieder: die flach angeordneten Armaturen, die sich schon bei geringer Sonneneinstrahlung kaum noch ablesen lassen. Worauf Mercedes im Jahr 2000 mit neu gestalteten Instrumenten reagierte. Ab da war übrigens auch das untere Bett optional aus einem Stück lieferbar.
625 PS UND GIGASPACE MACHEN DEN ACTROS ZUM TRAUM-TRUCK
Der Enkel erlaubt sich solche Patzer nicht. Weder geben Ablesbarkeit oder Erreichbarkeit der Instrumente Anlass zur Kritik, noch muss man sich Gedanken über passende Anschlussgänge machen. Das hat das automatisierte Getriebe "Powershift" souverän im Griff.
Das erhält allerdings auch kräftig Schützenhilfe vom Motor, weshalb der direkte Vergleich mit dem Alten nicht ganz fair ist. Der 15,5 Liter große OM 473 - die Topmotorisierung im Actros-Programm - kann mit seinen 625 PS über die Last der 40 Tonnen nur müde lächeln. Und unterstreicht beim Beschleunigen nachdrücklich, dass seine 3000 Newtonmeter Drehmoment eigentlich nach schwereren Aufgaben verlangen. So ist der alte 1843er schon nach der Beschleunigungsspur auf die Autobahn aus dem Sichtfeld des Rückspiegels verschwunden. Hier hat der Fahrer deutlich mehr zu tun. Nachdem man sich durch die 16 Gänge des Telligent-Getriebes gewählt und das Reisetempo erreicht hat, gilt es, den Actros auf Kurs zu halten. Denn auch, wenn die ZF-Lenkung des New-Actros immer noch nicht zu den besten am Markt zählt - gegen die schwammige Kugelmutter-Servo-Steuerung des Actros 1, die nach ständigen Lenkkorrekturen verlangt, ist sie eine echte Offenbarung.
Dem Fahrverhalten ebenfalls nicht zuträglich ist die sänftengleiche Abstimmung des MegaSpace. Die Kabine quittiert jede Kursänderung mit Geschaukel und auch Vorder- und Hinterachse sind eher auf Komfort als auf Fahrdynamik getrimmt. Zwar ist es am Ende Geschmackssache, mir persönlich gefällt aber die sportlich straff ausgelegte Abstimmung des aktuellen Modells deutlich besser.
So kann man sich im 1863 entspannt im bequemen Klima-Komfortsitz zurücklehnen und die Technik für sich arbeiten lassen. Für eine ökonomische Fahrweise sorgt der GPS-Tempomat PPC, der Abstands-Assistent hält die nötige Distanz zum Vordermann und der Spurwächter wacht über meine Geschicke am Lenkrad.
Solche Technik war Mitte der 90er-Jahre noch Zukunftsmusik, allenfalls der normale Tempomat erleichtert auf freier Strecke die Arbeit. Und trotzdem legte Mercedes beim ersten Actros den Meilenstein für die heutigen Systeme. Denn er war der erste Lkw mit elektronischer Vernetzung. Womit der Begriff CAN-Bus erstmals Einzug in die Lkw-Welt fand. Neu waren 1996 auch die elektronisch geregelten Scheibenbremsen, die in Sachen Ansprechverhalten und Dosierung neue Maßstäbe setzten. Und auch, dass der Actros technische Probleme oder Wartungsbedarf selbst erkannte und darüber im Bordcomputer informierte, war neu. Auch wenn die Zahlencodes zunächst nur für die Werkstatt entschlüsselbar waren.
So viele Meilensteine hatten allerdings ihren Preis. In den ersten Produktionsjahren fuhren beim Actros viele technische Probleme mit, die Kunden verärgerten und bei Mercedes die Kulanzzahlungen in schwindelnde Höhen trieben. Auch mein Actros hatte unter anderem mit Getriebeproblemen und gleich mehrmals mit festhängendem Fernlicht zu kämpfen.
VIELE FAHRER KONNTEN SICH MIT DEM ERSTEN ACTROS NICHT ANFREUNDEN
Viele Fahrer wollten oder konnten sich zudem mit der gemessen am Vorgänger billigeren Materialauswahl und der nicht immer klapperfreien Verarbeitung arrangieren. Weshalb sich nicht wenige das Vormodell SK zurückwünschten oder - wie in meiner damaligen Firma gleich in mehreren Fällen geschehen - den Wechsel von SK auf Actros einfach verweigerten.
Erste Linderung brachte zwar das bereits angesprochene Facelift im Jahr 2000, doch erst mit dem MP 2 (MP steht für Modellpflege) im Jahr 2003 machte Mercedes dann richtig Nägel mit Köpfen und spendierte dem Actros eine komplett neue und deutlich wertigere Inneneinrichtung. Auch die Kinderkrank-heiten waren endlich verschwunden. Erst ab diesem Zeitpunkt war der Actros ein richtig guter Lastwagen, für Fahrer und Chef gleichermaßen.