Wie genau steigt ein Fahrer hoch in seine Kabine? Wie kommt ein Typ, der gebaut ist wie Basketballer Dirk Nowitzki, in das obere Bett? Kann man den Platz hinter dem Lenkrad so gestalten, dass sich sowohl eine zierliche 50-Kilo-Fahrerin als auch ein US-Trucker, der sich viel zu oft viel zu viel Fastfood in den Leib gestopft hat, an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen? Sind die Trittstufen so angebracht, dass sich die Scheiben vollständig und sicher reinigen lassen?
Für Roland Stechow und Richard Sauerbier, beschäftigt mit Product Engineering beziehungsweise digitaler und realer Ergonomieforschung, sind das spannende Fragen. Allerdings denken die beiden Daimler-Mitarbeiter in ihrem Labor, das sich weit weg von der Alltagshektik im Think Tank des Unternehmens auf dem Böblinger Smart-Gelände befindet, einen Schritt weiter: Bis jetzt konnten solche Fragen nur durch aufwendige Versuchsreihen mit Probanden aus Fleisch und Blut beantwortet werden. Stechow und Sauerbier arbeiten derzeit an einem Projekt, bei dem es darum geht, die "Versuchsmenschen" durch einen virtuellen Trucker zu ersetzen. Mit einem Mausklick kann dieser von Frau auf Mann, von Klein auf Groß oder von Dick auf Dünn umgepolt werden und liefert dabei realitätsnahe, stabile Aussagen über bestmögliche ergonomische Lösungen. Das Programm kann aber nicht nur den Avatar modifizieren, sondern auch das Truckdesign. Es kann, um nur einige Beispiele anzuführen, Trittstufen breiter machen und bei Bedarf komplett anders positionieren oder die Einstiegshöhe für das Bett ebenso verändern wie den Verstellbereich des Sitzes.
KANN MAN EINE KABINE ENTWICKELN, IN DER SICH JEDER FAHRER WOHLFÜHLT?
Ergonomie bedeutet übersetzt die Schaffung möglichst optimaler Arbeitsbedingungen für einen Menschen. Jeder Fahrer (oder jede Fahrerin) kennt das Probleme, das damit verbunden ist: Kann man Lenkrad und Sitze so justieren, dass es "passt"? Hat man bei der optimalen Sitz-Lenkrad-Kombination noch einen guten Blick auf Spiegel und Instrumente? Sind Radio und Navi so positioniert, dass man nicht auf den Parkplatz fahren muss, um gefahrlos einen anderen Sender oder ein anderes Ziel einzustellen?
Diese Fragen stellen Designer und Konstrukteure oft vor nahezu unlösbare Probleme. Es ist schlechterdings unmöglich, den hochkomplexen Arbeitsplatz Lkw so zu gestalten, dass sich ALLE Fahrer darin gleichermaßen wohlfühlen. Das Ziel der Entwickler ist daher der "95-Prozent-Truck". Bei der Entwicklung soll ein Spektrum möglichst optimal abgedeckt werden, das 95 Prozent des Bevölkerungsquerschnitts entspricht. Basketballer Nowitzki fällt da mit knapp 2,15 Meter Größe leider nicht mehr darunter. Nun kommt hinzu, dass der Arbeitsplatz in einem Scania natürlich fundamental anders aussieht als im Actros - diese unterschiedlichen Ansätze sind sozusagen das Gerüst, um welches der Rest des Fahrerhauses gezimmert wird. Ein Scania-Arbeitsplatz ließe sich unmöglich in ein Actros-Fahrerhaus verpflanzen und umgekehrt, das Interieur passt nur in die jeweilige Silhouette. Oder, so die Daimler-Experten: "Das Kabinendesign ist kein Zufall, sondern basiert auf komplexen Überlegungen eines Herstellers, in denen die Ergonomie eine ganz entscheidende Rolle spielt."
Die Ergonomie konnte bislang nur an den ersten vorhandenen Modellen neu zu entwickelnder Fahrzeuge getestet werden. Stellte sich dabei eine Lösung als nicht praktikabel heraus, musste der komplette Prozess wiederholt werden - also neues Design, neuer Modellbau, neue Testreihen mit Dutzenden Versuchspersonen, die das 95-Prozent-Spektrum abbilden.
Genau an diesem Punkt setzt das Projekt ARVIDA an, mit dem Sauerbier und Stechow befasst sind. Lassen sich Fragen der Ergonomie schon vor dem Bau der ersten Modelle virtuell am Rechner simulieren und liefern belastbare Antworten, erhöht dies letztlich die Produktqualität und den Reifegrad einer Entwicklung und erspart den Konstrukteuren viel Zeit. Vielleicht ist es lediglich einem Zufall geschuldet, dass das ergonomische Versuchslabor in Böblingen nur durch eine dicke Mauer von der markenübergreifenden Designabteilung getrennt ist. Doch die Daimler-Mitarbeiter begreifen das als Chance für die Zukunft, Design und Ergonomie noch stärker als bisher zu verzahnen. Damit der virtuelle Trucker aber die richtigen Daten liefern kann, muss eine neue, plattformübergreifende Software für die 3D-Simulation geschaffen werden (siehe Kasten nächste Seite).
STUDENTEN, DIE LKW FAHREN KÖNNEN, SIND ALS PROBANDEN BEGEHRT
Im Böblinger Versuchslabor wurden jahrelang verschiedene Versuchspersonen immer wieder beim Durchspielen von Standardsituationen vermessen. Sie simulierten an einem speziell präparierten Fahrerhausmodell beispielsweise das Besteigen der Kabine oder das Hochklettern in das obere Bett. "Wir haben dafür einen Pool von Studenten, die den Bevölkerungsquerschnitt repräsentieren, was die körperlichen Voraussetzungen betrifft. Besonders gerne nehmen wir aber Leute, die Lkw fahren können", erklärt Richard Sauerbier. Sie haben eine gewisse Routine, was die Arbeitsabläufe betrifft, und wissen, wo die wichtigsten Bedienelemente sitzen oder welche Routinen Fahrer im beruflichen Alltag benötigen. Gut, dass die Versuche in einem abgeschotteten Labor stattfanden, denn die Probanden/innen mussten die Tests größtenteils in Unterwäsche durchlaufen. "Die Testreihen werden mit derzeit 22 Kameras gefilmt und fotografiert. Diese Spezialkameras sind mit Infrarotlicht ausgestattet, das wiederum auf kugelförmige Reflektoren trifft, die wir mit Doppelklebeband an die Versuchspersonen kleben. Das haftet auf der blanken Haut wesentlich besser als auf Kleidung", erläutert Sauerbier. Anhand der Aufzeichnungen lässt sich erkennen, wie stark sich zum Beispiel die Beugung von Gelenken verändert, wenn unterschiedlich große Personen ins Fahrerhaus klettern oder wenn für den Einstieg fünf statt vier Stufen zur Verfügung stehen.
WENN NEUN VON ZEHN PERSONEN SICH SO BEWEGEN, TUN DAS AUCH DIE FAHRER
Die letzten Versuche drehten sich um das Erklimmen des oberen Betts. Der Aufstieg ist ein extrem komplexer Bewegungsablauf, der stark von den individuellen körperlichen Voraussetzungen geprägt wird. Die Ergonomiespezialisten müssen dabei auch intuitive Bewegungsabläufe erfassen: Greifen neun von zehn Versuchspersonen beispielsweise ohne nachzudenken an eine vorhandene Stange oder in eine Aussparung zwischen den Staukästen, werden das später auch die Fahrer machen. Wobei die künftig vielleicht umdenken müssen. Im Versuchstruck jedenfalls erfolgte der Aufstieg nicht über eine Leiter, sondern über die Ablage in der Mittelkonsole und die Lehne des Beifahrersitzes. Sollte die Computersimulation später einmal ergeben, dass das wirklich die bequemste und sicherste Variante ist, können Designer und Konstrukteure diese Erkenntnisse entsprechend umsetzen. Vielleicht wird die endgültige Lösung im realen Future Truck aber auch völlig anders aussehen.
Die nächste Truck-Generation von Daimler dürfte schon mittels der neuen computerbasierten Ergonomiestudien entwickelt werden. "Wobei wir natürlich nicht sagen, wann eine neue Generation kommen wird", wirft die Kollegin von der Presseabteilung schneller ein, als man pflichtgemäß die Frage stellen kann. Doch zwei Faktoren manchen eine grundsätzliche Neuorientierung in absehbarer Zeit wahrscheinlich: Einerseits ist das die Änderung der Fahrerhausdimensionen, die seit Jahren von EU- Gremien und Herstellern diskutiert wird. Der zweite Faktor ist die fundamentale Veränderung des Arbeitsalltags von Lkw-Fahrern. Zumindest teilautomatisiertes Fahren wird mittelfristig Realität werden. Dieser Entwicklung muss eine Weiterentwicklung des Fahrerarbeitsplatzes unter ergonomischen Gesichtspunkten folgen.
Stechow und Sauerbier glauben, dass die Kabine eines Daimler-Trucks (Actros wird der dann wohl nicht mehr heißen) fundamental anders gedacht werden könnte als bis dato - und zudem mehr Komfort sowie mehr Platz für
Tätigkeiten abseits der Lenkaufgabe bieten wird. Basis für die Entwicklung dieses Fahrerhauses wird der mal dicke, mal dünne, mal große oder kleine virtuelle Trucker aus dem Computer sein, der bei Bedarf sogar zur Truckerin mutiert.
HEISST ERGONOMISCH AUCH, DASS DER ARBEITSPLATZ KOMFORTABEL IST?
Eine Frage wird der Avatar allerdings nicht so schnell beantworten können: Wann bezeichnen Fahrer oder Fahrerin ihren Arbeitsplatz als komfortabel? Ein Begriff, der stark von individuellen Vorlieben abhängt. Wobei es den Ergonomen hier nicht um Einzelelemente wie das Sitzen hinter dem Lenkrad geht, sondern um ein dynamisches Gesamtbild, das alle Bewegungsabläufe des Fahreralltags umfasst.
Aber irgendwann wird der Kollege im Rechner sicher so weiterentwickelt, dass er auch die dynamische Beurteilung von Komfort beherrscht.