Der Fluss, der sich in Kaskaden aus dem Gebirge herabstürzt, teilt die Piste in zwei Hälften. Vor unserem Truck hat eine Gruppe Biker Halt gemacht und bestaunt den reißenden Strom, der die Weiterfahrt unterbricht. Minendra steigt gemächlich aus und zündet sich eine Zigarette an, ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. Auf den Straßen des Himalaya ist ein Lkw die Lösung für viele Probleme und wenn die Probleme Ausländer betreffen, ist deren Verhandlungsposition nicht besonders gut.
Wenn die Biker weiterfahren wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Motorräder auf den Lkw zu laden und damit den Fluss zu überqueren. Umso mehr, als auch noch eine Gruppe Radfahrer auf der anderen Seite des reißenden Flusses auftaucht, die genau das gleiche Problem hat wie die Biker. Das Lächeln von Minendra wird noch breiter: Die Verhandlung wird nicht lange dauern. Wenn man keine Wahl hat, ist der angebotene Preis meistens der beste. Bezahlt wird im Voraus, während jeder seine Ärmel hochkrempelt und sich bereit macht, die Royal Bullets (Motorräder aus indischer Produktion) auf die Ladefläche unseres Lkws zu hieven. Nach mehreren Runden können die Touristen ihre Tour fortsetzen und Minendra lässt sich mit einem zufriedenen Seufzer hinter das Lenkrad fallen. Die Touristensaison ist auf dem Höhepunkt und die Geschäfte laufen gut.
Die Tage sind für Minendra zwischen müden Trekkingtouristen und allen möglichen Waren des täglichen Bedarfs, die bis in die höchsten Bergdörfer transportiert werden müssen, prall gefüllt. Er gehört zu den wenigen Personen, die direkt vom Bau dieser schlechten Straße profitieren, die am Ende das gesamte Annapurna-Massiv umrunden soll.
Die Annapurna-Tour zählt- zu Recht - zu einer der schönsten Trekkingtouren weltweit. Eine Strecke von über 200 Kilometern durch Landschaften voller Schönheit und mit Bergpässen in über 5400 m Höhe. Jedes Jahr zieht es Tausende Trekkingfans aus der ganzen Welt hierher, allerdings sind im Lauf der Jahre auch deren Ansprüche gestiegen. Vorbei die Zeit der schlichten Schlafgelegenheiten, in denen sich Dutzende Menschen einen Raum teilen mussten, und in der eine Schale Reis mit ein wenig Gemüse die einzige Menüoption war. Heute gehört die heiße Dusche ebenso zum Standard wie Pizza, gekühltes Bier und Wi-Fi für das Smartphone. Alle Errungenschaften der modernen Zivilisation auf Höhe des Mont Blanc. Was bis vor nicht allzu langer Zeit auf dem Rücken von Lastenträgern befördert wurde, wird heute auf Allrad-Lkw und todesmutigen Fahrern am Steuer transportiert. Denn Mut braucht man - oder eine große Portion Leichtsinn, um sich auf diese wahnwitzige Piste zu wagen, die bei Beni Bazar beginnt und in Muktinath endet, einem Bergdorf, das vollständig in der Hand von Trekkingtouristen und auch buddhistischen Pilgern ist - und das in fast 4000 m Höhe liegt.
EIN LOHNENDER TAUSCH: EIN GUESTHOUSE GEGEN EINEN LKW
Minendra ist noch keine 30. Mit seinem spärlichen Bartwuchs, dem intelligenten Gesicht und den feingliedrigen Händen erinnert er eher an einen in die Jahre gekommenen Studenten. Aber seine Augen sind lebhaft und sehen alles. Nichts deutete anfangs auf eine Laufbahn als Lkw-Fahrer hin: Seine Eltern besaßen ein "Guesthouse" und wollten, dass er in Kathmandu ein Tourismusstudium absolviert, um später bei der Versorgung der Trekkingtouristen zu helfen. Dabei hatten sie allerdings die Rechnung ohne die nepalesische Regierung gemacht: Zur Überraschung aller nahm sie den Bau einer Straße in Angriff, die einmal rund um das Annapurna-Massiv führen soll. Ein gigantisches Projekt über scheinbar unüberwindliche Gebirgspässe, das die Dörfer und ganze Regionen, in denen die Menschen immer noch wie im Mittelalter leben, aus ihrer Abgeschiedenheit befreien soll. Viele waren damals der Meinung, dass die Regierung eine unglückliche Entscheidung getroffen habe, als sie für den Verlauf dieser Straße ausgerechnet die beliebte Trekkingroute wählte, und dass diese Strecke durch den Straßenbau an Reiz verlieren würde. Minendras Familie hatte mehr Weitblick und erkannte sehr schnell, dass sich durch den Bau der Strasse das Verhalten der Touristen grundlegend andern wurde. Sie verkaufte ihre Herberge, die von den Trekkingtouristen seither verschmäht wird und investierte in den Kauf eines Allrad-Lkw für die Versorgung der hochgelegenen Dörfer. Minendra setzte sich als Touristenführer hinter das Lenkrad und hat heute keinen Grund mehr zur Klage, denn diese neue Tätigkeit ist eine wahre Goldgrube geworden. Binnen weniger Jahre schossen zahlreiche Hotels, Geschäfte und Restaurants wie Pilze aus dem Boden. Auch der Tourismus hat sich gewandelt, etwa durch die Radfahrer, die sich heute von Muktinath aus auf eine schwindelerregende Abfahrt wagen, oder die Pilger, die jetzt nicht mehr zehn Tage zu Fuß unterwegs sein müssen, um ein Kloster im Gebirge zu besuchen. Ein wahres Geschenk des Himmels für jeden Besitzer eines Trucks, der in der Lage ist, die grosse Kette der Himalayagipfel zu bewältigen.
EIN 4X4 MADE IN INDIA MIT EINER EINDRUCKSVOLLEN OFFROAD-LEISTUNG
Mit einem letzten Ruck und einer entfesselten Mechanik bewältigt unser Truck mit Allradantrieb die letzten Meter zwischen sich und dem Ufer. Das Wasser des Flusses ist eisig, aber der Motor steht kurz vor der Explosion, ebenso wie mein Kopf. Die Höhenkrankheit ist eine echte Gefahr, die man keinesfalls unterschatzen darf. Ab einer gewissen Höhe kann sie fatale Folgen haben. Minendra macht die sauerstoffarme Luft dagegen nichts aus. Sein Heimatdorf liegt in über 3000 m Hohe, sein Organismus ist an die Bedingungen angepasst und sein Herz ist viel grösser als das eines Menschen aus dem Tiefland es pumpt zwei Liter Blut mehr. Er leidet viel mehr unter der erstickenden Hitze in den Talern. Sein SML 4x4 wurde in Indien im Rahmen einer Partnerschaft mit der japanischen Firma Isuzu gebaut. Ein hochbeiniger Truck mit eindrucksvoller Leistung im Gebirge, der ursprünglich für die indische Armee und ihre militärischen Operationen gegen Pakistan in ihrem endlosen Krieg, der auf den höchsten Gipfeln des Himalaya ausgetragen wird, entwickelt wurde.
DIE STRASSE VERBESSERT DAS LEBEN IN ABGELEGENEN DÖRFERN DEUTLICH
Wir haben Pokhara verlassen. Die Großstadt dient als Basiscamp für alle Expeditionen zum Annapurna. Seit zwei Tagen fahren wir durch Landschaften, deren Schönheit einem den Atem raubt. Unser Lkw ist bis obenhin mit Lebensmitteln, Gasflaschen und anderen Utensilien für Kunden entlang der Straße beladen. Die Piste ist hart, oft müssen Flüsse überquert werden und das Fahren erfordert jederzeit höchste Konzentration. Minendra freut sich über etwas Unterhaltung. Er spricht ausgezeichnet Englisch und preist unaufhörlich die Schönheit seines Landes, die unvergleichliche Qualität seines Ciders, die reine Luft, die herzlichen Menschen.
Der Bau dieser Straße bringt für ihn nur Vorteile. "Sie scheint eure Trekkingroute zu verunstalten, aber für uns ist sie das Ende eines Alptraums", erklärt er geduldig. "Wir können jetzt das Krankenhaus aufsuchen, und Waren sind deutlich billiger geworden, seit sie nicht mehr von Menschen transportiert werden müssen." Tatsächlich scheint das Elend geringer geworden zu sein und Menschen, deren Rücken sich unter schier unmenschlichen Lasten krümmen, sieht man kaum mehr. Auch die Rodung der Wälder hat ein Ende, seitdem Gas zum Kochen und für Warmwasserduschen vorhanden ist. Ich höre nur mit einem Ohr zu und kann meine Augen nicht von dem schier endlosen Abgrund wenden, der in die tiefste Schlucht der Welt führt, welche die tosenden Wasser des Kaligandaki-Flusses in den Felsen gegraben haben. Je höher wir kommen, desto mehr verschwindet die durch den Monsunregen hervorgebrachte üppige Vegetation. An ihre Stelle treten trockene Wüstenlandschaften, die das mystische Königreich Mustang ankündigen, einen der letzten Zufluchtsorte der lebendigen tibetischen Kultur. China mit seinem ungebremsten Wachstum, seinen neuen Straßen und der florierenden Wirtschaft ist nicht weit. Direkt auf der anderen Seite der Berge. Ein anderes Universum ...
Die Straße ist durch einen Steinschlag blockiert. Einige Männer bemühen sich, sie freizuräumen. Ihre Gesichter sind sonnengegerbt, die Kleidung zerlumpt. Der Sauerstoffmangel macht sich grausam bemerkbar: Ihre Bewegungen sind langsam, die Blicke stumpf. Manche arbeiten mit einer Schaufel, andere mit einer Schubkarre. Maschinen gibt es nicht. In einem Land, das so arm ist wie Nepal, ist menschliche Arbeitskraft immer noch am billigsten und der Höhenluft am besten gewachsen. Ein Bagger würde in der Nacht sofort zerstört werden, weil er nach Meinung der Menschen Arbeitsplätze vernichtet.
DER KLEINSTE FAHRFEHLER KANN TÖDLICH ENDEN
Wenn Minendra sich hinter sein Steuer setzt, weiß er nie, wann er zurückkehren wird. Im Winter ist die Straße durch Schneestürme manchmal wochenlang blockiert und bei einer Panne muss er sich selbst helfen. Der kleinste Fahrfehler kann tragisch enden, das weiß er und er weiß auch, dass kein Hubschrauber ihn in einem Notfall retten würde. Hubschrauber sind Politikern und Ausländern vorbehalten. Wie beim Erdbeben im April 2015 und bei einer Tragödie nur fünf Monate zuvor, bei der 43 Bergwanderer ums Leben kamen. "Der Schneesturm kam urplötzlich", erzählt Minendra, der sich damals etwa vierzig Kilometer vom Ort des Unglücks entfernt aufhielt. "Die Wetterstation in Kathmandu hatte den Sturm zwar vorhergesagt, aber die Informationen nicht an die Touristen weitergegeben. Sie saßen praktisch in der Falle. Auch viele nepalesische Führer verloren an diesem Tag ihr Leben."
Im Schneidersitz sitzt Minendra im Gras und isst sein Dal Bat (ein traditionelles nepalesisches Gericht aus Reis und Linsen). Trotz der Höhe ist es an diesem Herbsttag mild. Träger beladen den Truck mit Äpfeln, die nach Pokhara gebracht werden sollen. Die Früchte aus den Hochtälern des Gebirges gelten als die besten im ganzen Land. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtet er die Wolken, die sich um den Gipfel des Annapurna bilden. Mehr als alles andere fürchtet er den Regen, der oft Steinschlag und Erdrutsche verursacht. Unvorhersehbare Unfälle, denen jeder schutzlos ausgeliefert ist, der auf dieser Straße unterwegs ist - aber Minendra hat kaum eine Wahl. Er muss weiter diese riskanten Touren fahren, wenn er seine Familie ernähren will. Als Ehemann und Vater einer kleinen Tochter trägt er die Verantwortung.
Nach zehn Jahren Bürgerkrieg, der annähernd 18.000 Menschenleben gefordert hat, ist Nepal ein ausgeblutetes Land. Die Leute kämpfen darum, in ein Land wie Malaysia oder Saudiarabien auszuwandern, um dort vielleicht 250 Euro im Monat zu verdienen. Die ehemalige Monarchie hat einer brüchigen Demokratie Platz gemacht, dennoch sind Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit höher denn je.
MIT SEINEM LKW GEHÖRT MINENDRA IN NEPAL ZU DEN PRIVILEGIERTEN
Die Lebenshaltungskosten sind erheblich gestiegen und der Steuersatz von 238 % auf Importfahrzeuge gehört weltweit zu den höchsten. Bis heute wird der Staatshaushalt zu 75 % aus internationaler Hilfe gedeckt - das kürzliche Erdbeben macht die Dinge nicht leichter. Nepal ist nach wie vor eines der ärmsten Länder; ein Fahrer mit einem Monatseinkommen von 75 Euro kann sich glücklich schätzen. Als ich Minendra frage, wo das ganze Geld aus dem Ausland hinfließt, lächelt er nur traurig und sagt: "In ihre Bäuche." Gemeint sind natürlich die Politiker.
Das Leben ist nicht einfach, auch nicht in einem so schönen Land, aber Minendra beklagt sich nicht. Er weiß, dass er zu den Privilegierten gehört. Sein Lkw ist ein ausgezeichnetes Arbeitsgerät, das sich auf der neuen Straße bewährt und das es ihm erlaubt, in seinen geliebten Bergen zu bleiben. So ist Minendra dazu bestimmt, immer öfter die Tour auf der Straße ins Annapurna-Massiv zu fahren und den Himmel zu bitten, dass "Baraka" ihn nicht im Stich lässt. Trotz seines jungen Alters ist er weise genug, nicht mehr zu verlangen. Claude Barutel