Spiros steht auf der Terrasse seines Hauses im Süden der zweitgrößten griechischen Insel Evia. Der Blick ist phantastisch, geht über das türkisfarbene Meer, schroffe Klippen, einen perfekt blauen Himmel. Der Rentner breitet seine Arme weit aus und jubelt: "Hier bin ich König, hier bin ich glücklich!" Fährt man sonntags um die Mittagszeit ein paar Kilometer weiter in die kleine Hafenstadt Karystos, sind die Tische der Tavernen brechend voll. Die Leute genießen den freien Tag und den Frühling, unterhalten sich, diskutieren lautstark über die Politik (die Meinungen liegen maximal weit auseinander), ihre persönlichen Befindlichkeiten oder den Wind, der in vergangenen Jahr um Karystos so stark war wie nirgends sonst in Griechenland - wird es in diesem Sommer vielleicht noch heftiger werden?
Das gleiche Bild am Freitagabend, am belebten Thomasplatz mitten in Athen, wo die Tische der Restaurants neben einer uralten Kirche stehen, alle Stühle besetzt sind und Kinder ausgelassen Fußball spielen. Ja, Griechenland lacht, die Griechen freuen sich am Leben! Schlendert man von dem quirligen Platz durch Nebenstraßen und Gassen bis zur Reiterstatue von König Konstantin am Park Pedion tou Areos, fühlt man sich an die schlechteren Viertel in südamerikanischen Megacities erinnert. Der Park wurde erst vor wenigen Jahren für viele Millionen Euro renoviert, gehört jetzt aber offenbar den Outlaws und Drogenjunkies. Zehntausende Graffities "verzieren" Mauern, Telefonzellen, Fahrzeuge, die trostlosen, verlassenen Gewerbegebiete oder ausgebrannte Häuser: Krisenkunst sozusagen.
Ein verkrüppelter Mensch liegt neben seinem Rollstuhl auf der Straße und bettelt um Almosen. In Patras liefert Dr. Konstantin Mitropoulos eine interessante Definition des politischen Systems: "Als die Demokratie erfunden wurde, hatten 30.000 Athener 300.000 Sklaven, die für sie arbeiteten. Heute ist es umgekehrt, das kann nicht funktionieren. Wir haben drei Kriege überstanden, aber jetzt fahren wir alles gegen die Wand." Der beleibte Dr. Mitropoulos redet sich in seinem Eisenwaren- und Werkzeuggeschäft, das seit 126 Jahren von seiner Familie betrieben wird, in Rage. Griechenland weint.
SEIT JAHREN GIBT ES VIEL ZU VIELE ECKEN, IN DENEN GRIECHENLAND WEINT
Die Schlagzeilen der letzten Wochen und Monate um syrische Flüchtlinge an Griechenlands Stränden und in Idomeni haben die wirtschaftliche und politische Krise der Hellenen in den Hintergrund rücken lassen. Doch wenn man das Land bereist und die persönlichen Eindrücke mit dem vergleicht, was vor allem die Blätter mit den großen Schlagzeilen und den simplen Lösungen vor einiger Zeit über den Süden der EU schrieben, hat man den Eindruck, dass es denen nur um Krawall und nicht um Fakten ging. Und das gilt in beide Richtungen, im Norden Europas ebenso wie in Griechenland selbst. Viele griechische Bürger sehen das ökonomische Desaster durchaus differenziert. Ihnen ist klar, dass Schulden irgendwann in irgendeiner Form eingefordert werden.
Wenn sich ein Mann wie Spiros wie ein König fühlt, liegt das auch daran, dass er - wie er immer wieder betont - ebenso wie seine Frau vierzig Jahre lang hart geschuftet hat: "Wir haben uns kein teures Auto geleistet und Party gemacht, sondern alles Geld in das Haus gesteckt. Nur darum geht es uns heute gut und wir können unserem Sohn eine gute Ausbildung finanzieren," sagt der Rentner und deutet mit dem Finger auf seine Landsleute: Viele sind seiner Überzeugung nach selbst schuld an ihrer derzeitigen Situation, weil sie in der Vergangenheit zu sorglos und deutlich über ihre Verhältnisse gelebt haben. Und der Eisenwarenspezialist Mitropoulos meint das mit den fehlenden Sklaven natürlich im übertragenen Sinn: Es gibt seiner Meinung nach einfach zu wenig Leute, zum Beispiel Geschäftsleute wie ihn selbst, die mit ihren Steuern (und denen ihrer Mitarbeiter) den Staat finanzieren: "Wir schaffen es, auch in der Krise noch gute Geschäfte zu machen. Da, schau auf den Parkplatz, die Rohre auf meinem Lieferwagen, die braucht ein Kunde, der Seismographen für Indonesien baut und viel Erfolg damit hat. Aber wir sind zu wenige."
DIE GRIECHISCHE WIRTSCHAFTSKRISE HAT AUCH HAUSGEMACHTE URSACHEN
Auch Georgios Poukamisas stimmt sofort der Meinung zu, dass das Desaster in Griechenland vor allem ein tief verwurzeltes kulturelles Problem ist. Griechen haben seit jeher ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Staat und zudem in den letzten Dekaden ihre Politiker als mehr oder weniger korrupte Kaste erlebt, die vor allem an die eigenen Taschen und die jeweils eigene Klientel gedacht hat. Im Gegenzug verbreitete sich die Angewohnheit, "dem Staat" so wenig wie möglich zukommen zu lassen. Das betrifft aber nicht nur die viel diskutierte Steuermoral, sondern auch das generelle Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft oder das Land. Was ungesagt bleibt, aber klar ist: Weil derartige Denkweisen nicht von heute auf morgen zu ändern sind, machen sich viele Griechen keine großen Hoffnungen, dass sich die schwierige Lage sozusagen über Nacht zum Guten wenden könnte. "Wir müssen langfristig begreifen, dass EU und Euro für Griechenland viele Vorteile haben, und vor allem unsere Mentalität ändern," sagt Poukamisas, der als Managing Director zusammen mit seinem Kollegen Ilias Lepouras mit den Folgen der schwierigen Situation fertig werden muss, "obwohl sich vor fünf Jahren niemand vorstellen konnte oder wollte, wie schlimm es kommen würde." Die beiden Männer arbeiten für das Transportunternehmen Eurologic, das nach eigenem Bekunden "zu den beiden größten" in Griechenland zählt und einen Rückgang des Geschäftsvolumens um knapp zwanzig Prozent verzeichnet. Ebenso wie der zornige Maschinenbau-Doktor bleibt Eurologic weiter innovativ und investiert in die Infrastruktur.
Das Verrückte dabei: Im vergangenen Sommer hätte es nach den Worten von Poukamisas genügend Ladungen in Richtung Norden gegeben - aber zu wenig Rückladungen nach Griechenland. Normalerweise ist das Missverhältnis wegen der nicht sonderlich exportstarken griechischen Wirtschaft genau andersherum gelagert. Der Grund: Die griechischen Abnehmer hatten aufgrund der Kapitalsperren keine Möglichkeit, ihre Geschäftspartner zu bezahlen.
Oder diese hatten Angst, ihr Geld nicht zu bekommen, wenn die Ware längst in Griechenland angekommen war. Fahrer, die mittellos irgendwo in Mitteleuropa gestrandet waren, gab und gibt es bei Eurologic nicht: "Wir benutzen Euroshell-Karten und sind sehr glücklich, dass das auch in dieser schwierigen Zeit problemlos funktioniert," berichten Poukamisas und Lepouras. Was vielleicht auch daran liegen mag, dass Eurologic einen Ableger in Köln hat und damit mehr Spielraum als beispielsweise selbstfahrende Unternehmer. Das betrifft auch die Ersatzteilversorgung, die in Griechenland stellenweise komplett zum Erliegen kam.
Griechenland weint: Unser Kollege Manolis Agrimanakis verlegt die größte griechische Fachzeitschrift (Trochoi&TIR) und weiß daher genau, wie brutal die langjährige Krise die Branche getroffen hat: "Vor allem den kleinen und mittelständischen Betrieben ging irgendwann die Luft aus."
Ein Teil der griechischen Transporteure versucht zu überleben, indem sie ihre Trucks ins Nachbarland Bulgarien mit den signifikant geringeren Kosten (Steuern, Löhne etc.) ausflaggten. Rund 4500 eigentlich griechische Trucks laufen inzwischen mit bulgarischem Kennzeichen (und letztlich auch im Wettbewerb mit bulgarischen Frächtern, die sich die fehlenden Kabotage-Kontrollen im Nachbarland zunutze machen). Trotzdem, berichtet Agrimanakis, haben in den vergangenen sieben Jahren rund 45 Prozent der Betriebe das Handtuch geworfen und aufgegeben: "Die meisten davon waren selbstfahrende Unternehmer oder kleine Familienbetriebe mit bis zu drei Lastwagen, die üblicherweise von Angehörigen gefahren werden."
Gründe für die Aufgabe waren einerseits fehlende Aufträge - in der Krise ging der private Konsum ebenso stark zurück wie beispielsweise öffentliche Jobs im Zusammenhang mit Bau oder Erhalt von Infrastruktur, was landesweit ein deutliches Minus beim Ladungsaufkommen bedeutete. Zum anderen stiegen die Kosten für Maut, Treibstoff, Steuern und Versicherungen erheblich an. "Das Problem," erklärt Agrimanakis, "wurde durch die hier übliche Zahlungsmoral weiter verschärft. Während die meisten Kosten sofort anfallen, zahlen die
Kunden in Griechenland frühestens nach drei Monaten. Was dazu führte, dass allein in den beiden vergangenen Jahren über 2000 Besitzer die Zulassungen für ihre Trucks bei den Behörden deponierten. Ein spezielles 'Krisengesetz' ermöglicht diese vorübergehende Stilllegung. Dann muss man keine Steuern, Versicherungen etc. bezahlen." Als letzten Aspekt erwähnt der griechische Kollege noch die Forderung der europäischen Geldgeber, den Transportmarkt zu liberalisieren: "Das bringt auch nicht viel, denn für junge Fahrer ist der Weg in die Selbstständigkeit nicht attraktiv. Man braucht dafür heute mindestens einen Euro-5-Truck und muss permanent 18.000 Euro als Sicherheit auf der Bank liegen haben - und wer hat das schon in diesen Zeiten?"
Wer noch nicht aufgegeben hat, versucht sich irgendwie durchzuwursteln, mit ungewissem Ausgang. Wie beispielsweise Dimitris Pipidas oder Filimon Anifantis und Spiros Nikas. Deren großer Vorteil: Ihre Arbeitsgeräte sind Oldtimer, die ihre Besitzer schon lange nicht mehr mit monatlichen Leasing- oder Kreditraten belasten. Das Duo Anifantis und Nikas setzt zwei aufgemotzte Mercedes-Veteranen ein, die - Krise hin oder her - top-gepflegt zum Fototermin antreten. Die Fahrzeuge unterscheiden sich farblich - leuchtend rot der eine, tiefblau wie das Meer um die Ferieninseln der andere - und in der Größe. Der Vierachser, "geboren" 1986 und seit 1996 in der Firma, die vom Großvater begonnen wurde, hat einen Tankaufbau für (Trink-) Wassertransporte. Mit dem alten 814-er, ein Leichtmatrose aus dem Jahr 1992, fahren sie in der Regel Feuerholz sowie Heu und Stroh. Nachdem die Garantiezeit bei beiden Trucks schon ein paar Tage ausgelaufen ist, spielt es auch keine große Rolle, dass die Motoren ein wenig aufgemotzt wurden. Der rote Giftzwerg bringt jetzt 200 PS auf die Straße, der Wassertruck um die 500. Den beiden Unternehmern - Onkel und Neffe - hilft auch ihr zweites Geschäft über die schwierigen Zeiten: Sie betreiben noch eine Tankstelle und weil die Griechen in Krisenzeiten "nur Essen für sich und Treibstoff für das Auto" kaufen, funktioniert das einigermaßen gut.
AUF SEINEN DEUTSCHEN LASTER LÄSST DIMITRIS NICHTS KOMMEN
Pipidas arbeitet ebenfalls mit einem Vierachser. Der kommunal-orangefarbene Kipper ist Baujahr 1996 und mit dem 380-PS V8-Motor bestückt. "Er mag seinen Truck jeden Tag ein bisschen mehr," lacht Sotirios Stylianopoulos, der Verkäufer in der Daimler-Niederlassung, in der wir uns treffen. Klar, er würde dem 39-Jährigen gerne einen neuen Arocs verkaufen. Doch der ist weit davon entfernt, sich einen leisten zu können. Ebenso wie sein Cousin, der den alten 3535 übernommen hat, mit dem Dimitris 1998 in die Selbstständigkeit gestartet ist.
Kippertransporte - Aushub, Sand, Kies und Schotter, Asphalt oder die Belieferung privater Baustellen - haben ja seit Längerem nicht gerade Hochkonjunktur in Griechenland. Öffentliche Aufträge, erzählt der selbstfahrende Unternehmer, seien zuletzt nur noch von den Kommunen gekommen - doch im vergangenen Jahr zwang sie die Regierung Tsipras, vorhandenes Geld an die Zentralregierung zu überweisen, um die Staatspleite zu verhindern: "Jetzt kommt von dieser Seite auch nicht mehr viel." Aufträge nimmt Dimitris nur noch von Leuten an, mit denen er seit Jahren zusammenarbeitet: "Da kann ich mir sicher sein, dass ich auch bezahlt werde." Gut, dass sein Vierachser genügsam und zuverlässig ist: Der alte Motor verkraftet klaglos auch den modernen Diesel mit Bio-Anteil, Motor und Getriebe sind noch original, und Öl verbraucht der Veteran auch nicht mehr als vor zwanzig Jahren: "Was denkst du, das ist ein Mercedes!", antwortet Dimitris fast entrüstet auf die entsprechende Frage. Mag sein dass das Verhältnis zu den Deutschen in den Jahren der Krise nicht völlig ungetrübt war - doch auf seinen deutschen Laster lässt der griechische Transporteur nichts kommen.