Ende der 60er-Jahre schöpften Lastwagen ihre Motorkraft üblicherweise aus großvolumigen Saugmotoren. Selbst schwere Kombinationen, damals noch mit 38 Tonnen erlaubtem Höchstgewicht, mussten sich mit 200 bis 240 PS begnügen. Das galt auch für den LKW-Hersteller Mercedes, wo es zu jener Zeit noch Hauben- und Frontlenkerlastwagen zur Auswahl gab.
Doch eine Abteilung dort war der Zeit voraus: Die Ingenieure und Techniker vom Fahrversuch, damals noch im badischen Gaggenau angesiedelt. Sie nutzten den schweren Abschleppwagen, der im April 1969 für firmeneigene Zwecke in Dienst gestellt worden war, als Versuchsträger für die in jenen Tagen noch ziemlich außergewöhnliche Turbotechnik.
Der Dreiachser hat einen Motor des Typs OM355A unter der Haube, der in dieser Ausbaustufe serienmäßig 230 PS lieferte, für damalige Zeiten nicht einmal wenig. Doch gerade ein Schleppwagen braucht eigentlich viel Leistung, um bei Bedarf einen voll beladenen Lastzug hinter sich herziehen zu können. Und das sollte auch im bergigen Schwarzwald, wo Mercedes einst viele Versuchsfahrten unternahm, an einer bestimmten, sehr steilen Steigung funktionieren.
MEHR LUFT: EIN NEUARTIGER LADER MACHTE DRUCK
So bekam der Reihensechszylinder eine dieser neuartigen Turbinen aufgepropft, mit denen der Abgasdruck genutzt wird, um der innermotorischen Verbrennung mehr Luft zuzuführen und dadurch die Leistung zu steigern. Der Fahrzeugbrief nennt offiziell eine Leistung von 303 PS. Doch der heutige Eigentümer Roland Hohl aus Michelfeld bei Schwäbisch Hall glaubt, dass es in der letzten Ausbaustufe eher um die 400 Pferde geworden sind.
Nachgerüstete Hitzeschutzschilde in der Motorhaube zeugen davon, dass man mit seinen Turboerfahrungen damals noch nicht sehr weit war. Dass ein Bauteil seine Arbeit bei utopischen Drehzahlen selbst dann noch verrichtete, wenn es vor Reibung bereits rot glühte, gehörte wohl zu den neueren Erfahrungen der Lastwagenbauer. Dafür war der allradgetriebene Dreiachser ein echter Dampfhammer, der seinen Artgenossen mit Lässigkeit davonzog.
Rund 15 Jahre lief der Schleppwagen in den Diensten seines Herstellers. Ein massiver Abschleppkran des Fahrzeugwerks Weidner hob die havarierten Fahrzeuge dabei an. Für die Bedienung der Hebel gab es sogar eine geschlossene Kabine, so dass der Abschleppfahrer selbst bei miesem Wetter trocken saß. Große Staukisten halten reichlich hilfreiches Zubehör zum Arbeiten bereit. Wenn ein Fahrzeug angehoben geschleppt wurde, musste der Kranarm mit massiven Stahlstreben auf dem Rahmen abgestützt werden. Die dann erlaubte Höchstgeschwindigkeit richtete sich nach der angehängten Last. Waren es bis zu vier Tonnen, durfte der Chauffeur die Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ausnutzen. Hingen sechs Tonnen am Haken, durfte man nur maximal 44 km/h schnell sein. Maximal waren zehn Tonnen Tragkraft möglich.
SCHWÄBISCHE SPARSAMKEIT: 20-T-WINDE VON US-ARMEE
Schwäbische Sparsamkeit demonstrierten die Fahrzeugbauer mit der Wahl einer zusätzlichen Motorseilwinde. Sie ist unverzichtbar, wenn ein havarierter Lastwagen aus schwieriger Lage zu bergen ist. Statt auch etwas Neues für das Neufahrzeug zu beschaffen, bekam der Mercedes eine 20-Tonnen-Winde aus Beständen der US-Armee, technisch schon damals etwas antiquiert, dafür zuverlässig und stark.
1984 wurde der Haubenwagen schließlich zum Verkauf freigegeben - und landete beim schwäbischen Spediteur Hohl. Dort wurde er noch viele Jahre für Bergefahrten genutzt und verrichtete selbst bei schwierigen Einsätzen zuverlässig seinen Dienst. Nur konnte den Dreiachser kaum jemand fahren, weil das Getriebe unsynchronisiert und recht bockig ist ...
Roland Hohl gehört zu denen, die das noch beherrschen. 1943 geboren, übernahm er 1974 das Unternehmen, das heute 24 Lastzüge hat und Ende der 20er-Jahre von seinen Vorfahren gegründet wurde. Als junger Mann ist er noch selbst in die Ferne gefahren, deswegen bedient er das Getriebe routiniert. Dazu zählt etwa der Trick, beim Raufschalten eine Sekunde auf den Motorbremsknopf zu steppen, um die Drehzahl für einen schnellen Gangwechsel anzupassen.
VIELE EINSÄTZE IN DER WILDEN NACHWENDEZEIT
"Wir haben viele Einsätze mit dem Schlepper gefahren, vor allem in der wilden Nachwendezeit. Einmal ist ein Lastwagen von uns bei Gera die Böschung neben der Autobahn hinuntergefahren. Wir haben ihn komplett ohne Hilfe geborgen und heim auf den Hof geholt", erzählt der Spediteur, der sich altersbedingt Ende 2012 aus der Geschäftsführung zurückgezogen hat. Dass er trotzdem noch sehr rüstig ist, beweist er auf unserer kleinen Fotofahrt. Mit scheinbarer Leichtigkeit treibt er die Maschine voran. Dabei muss man ganz schön in die Lenkradspeichen packen, um Richtungswechsel einzuleiten. Denn um dem Kran ein vernünftiges Gegengewicht zu verleihen, besteht die vordere Riesenstoßstange komplett aus massivem Eisen, das drückt doch etwas auf die Lenkachse.
Doch wenn heute einer der Firmen-LKW in der Ferne havariert, ist die Polizei meist nicht bereit, lange auf den betriebseigenen Schlepper zu warten. So ist der alte Benz langsam in den verdienten Ruhestand gerollt, nur noch gelegentlich wird er für kurze Fahrten genutzt. Umso schöner, dass sich ein kaum bekannter Pionier der Turbotechnik nicht verschleißen muss und auf diese Art der Nachwelt erhalten bleibt.