Sergej Komerow sitzt in einem kleinen Café an der Südumfahrung von Moskau und schlürft heißen Tee aus einer dünnwandigen Plastiktasse. "Vor fünfzehn Jahren war es noch ein großes Abenteuer, mit dem Lkw quer durch Sibirien zu fahren. Die Straße war über weite Strecken kaum mehr als eine asphaltierte Schlaglochpiste. Ein Flickwerk aus Teer und Schotter, das Mensch und Maschine viel abverlangt hat. Aber in den letzten Jahren hat sich dort vieles zum Besseren gewendet", sinniert Sergej.
Draußen vor dem bunten Holzhäuschen parkt sein neuer Actros. Den lenkt er im Werksverkehr durch Russland. Insgesamt tourt Sergej seit 35 Jahren durch die frühere UdSSR und spätere russische Föderation. Das macht ihn zum Experten für die Zustände auf Russlands Straßen. Ihm glaubt man auch die Prognose, dass spätestens in zwei Jahren der Asphalt auf der Federalna-Autobahn, die quer durch Sibirien verläuft, hundert Prozent in Ordnung sein wird.
DER RUSSISCHE PRÄSIDENT TREIBT DEN AUSBAU DER AUTOBAHN VORAN
Zu verdanken, meint Sergej, hat Russland die besseren Wege Vladimir Putin. Tatsächlich treibt der russische Präsident den Ausbau der Federalna-Magistral-Autobahn, zwischen Moskau und dem Wirtschaftsstandort Wladiwostok im Osten Sibiriens, seit 2001 konsequent voran. Mit 9500 Kilometern Länge ist der Ausbau ein echtes Mammutprojekt. Die Distanz entspricht zwölf Mal der von München nach Hamburg. Bereits 2004 war das letzte Stück im Osten der Transkontinentalen durch die sumpfige Taiga geschottert. Davor wurden Lastwagen dort noch auf Züge verladen. Seit 2010 ist Moskau -Wladiwostok durchgehend asphaltiert. Mancherorts allerdings so schlecht, dass Putin nach einer Probefahrt eher von Feldwegen als von einer Überlandstraße sprach. Die Straßenbauteams optimieren seitdem auch die alten Teilstücke des eurasischen Asphaltbandes. Im Laufe von fünfzehn Jahren ist so quer durch das größte Land der Erde eine komfortable Fernstraße entstanden. Wo vorher oft nur Schrittgeschwindigkeit möglich war, ist der Schwerverkehr heute fast durchgängig mit 90 km/h unterwegs.
Wobei die Federalna-Autobahn nicht das ist, was in Europa darunter verstanden wird. Im Grunde ist sie eine simple Bundesstraße, die höchstens an Steigungen doppelspurig verläuft. Und trotzdem hat ihr Ausbau das Straßentransportwesen Richtung Osten revolutioniert. Jetzt sind Transportzeiten verlässlich berechenbar und so attraktiv, dass sich Fernlinien als Konkurrenz zur Eisenbahn tatsächlich lohnen.
Einer, der mit diesen festen Transportzeiten rechnet, ist der Fahrer Robert Wiak. Der 40-jährige Pole fährt Linie ins mongolische Ulaanbataar - seit einem Jahr, von Polens Hauptstadt Warschau aus, quer durch Russland. Maximal 26 Tage hat er Zeit für den 15.000 Kilometer langen Rundlauf, mit Obst im Kühlsattel Richtung Osten und 24 Tonnen Kautschuk zurück in die Heimat. 12.000 Kilometer führen dabei im Transit durch Russland. Derart enge Zeitvorgaben auf solche Entfernungen lassen sich nur realisieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen: Robert hat einen verhältnismäßig neuen 600er Volvo. Mit dem kräftigen Motor kann er langsamere Lastwagen sicher überholen.
WER ALS LKW-FAHRER ARBEITET, MUSS SEINEN TRUCK REPARIEREN KÖNNEN
Das erhöht seine Tageskilometerleistungen. "Außerdem musst du ein Mechaniker sein, wenn du hier Fernverkehr fahren willst", erklärt Robert, "denn Truck-Notdienste, die reparieren oder abschleppen, gibt es höchstens in den Zentren!". Und die liegen, für unsere Verhältnisse, unfassbar weit auseinander: selten unter 600 Kilometer im Westen Russlands, und meist 1000 Kilometer im Osten, in Sibirien. Dazwischen nur ein paar Dörfer und winzige Städte, in denen sich Fahrer verpflegen können oder Rastplätze finden.
Seit zehn Jahren fährt Robert Russlandtransporte, als Pole immer für polnische Unternehmen. Russisch spricht er verhältnismäßig gut und er kennt nach den ganzen Jahren die Eigenheiten des russischen Transportwesens. "Speziell beim Tanken kannst du viel Geld sparen. Allerdings musst du wissen, wo", meint er lächelnd. Er selbst tankt gerade auf dem Hinterhof eines kleinen Cafés bei Omsk. Dort stehen nicht mehr als ein riesiger, uralter Tank und ein winziges Kassenhäuschen mit vergittertem Fenster. "Wenn du bar bezahlst, bekommst du hier Qualitätsdiesel viel billiger als bei den großen offiziellen Tankstellen. 26 Rubel pro Liter hier, statt 34 Rubel bei den Großen - der Unterschied kann sich sehen lassen!" Das erklärt denn auch, warum trotz des dichten Tankstellennetzes einzelne Lastwagen mit großen Zusatztanks unter dem Trailer unterwegs sind.
Auch unter den Rasthöfen, Stojanka oder Avtokemping genannt, kennt Robert die Besten entlang der Federalna. Das ist wichtig, schließlich bekommt er hier Ersatzteile für den Volvo oder den Kühltrailer. Viele Stojankas haben eine erstaunlich gute Infrastruktur. Sauna, Wäscheservice, Wlan, Supermarkt - und sehr oft günstige Reifendienste, Werkstätten und Ersatzteilshops. In den Werkstätten können Fahrer Arbeiten an Fahrwerk und Bremsen erledigen lassen, wenn sie mit dem eigenen Latein am Ende sind. Die "Avtomagazins" bieten ein breites Sortiment - von der Glühbirne über Kupplungen, Kotflügel und Frontschürzen bis hin zu Faltenbälgen und Bremszylindern, und das für die gängigen russischen, europäischen, asiatischen und amerikanischen Lkw-Typen. Was nicht vorrätig ist, wird binnen weniger Stunden besorgt. Das funktioniert, da die Betreiber der Avtomagazins und Werkstätten bestens vernetzt sind.
Das Geschäft mit den Ersatzteilen lohnt sich. Sind doch laut der Zeitung "Die Welt" in Russland 1,9 Millionen mehr oder weniger klapprige Lkw unterwegs. Dabei sind vier von fünf der russischen und jedes zweite Importfahrzeug älter als zehn Jahre und müssten bald ersetzt werden.
Einer, der jahrelang versucht hat, sich mit gebrauchten Importfahrzeugen im russischen Fernverkehr zu behaupten, ist Aleksandr aus der Nähe von Kazan. Das liegt 800 Kilometer östlich von Moskau. Doch vor ein paar Monaten hat er die Segel gestrichen und seine acht Lkw verkauft. Der Unterhalt der alten Fahrzeuge mit ihren endlosen Reparaturen war einfach nicht rentabel. "Und die Fahrer sind auch nicht mehr das, was sie früher einmal waren", lacht Aleksandr. "Vielen ist es heute zu viel, tagsüber zu lenken und in der Pause noch am Truck zu schrauben!" Dazu kommt der Zeitdruck, unter dem das Geschäft steht. Der Markt ist offen, Frachten sehr begehrt und die Transportpreise auf niedrigem Niveau. Da kann nur überleben, wer Umsatz einfährt.
AMERIKANISCHE TRUCKS GEHÖREN IN RUSSLAND ZUM STRASSENBILD
Jetzt besitzt der 49-Jährige nur noch einen zehn Jahre alten Ami-Truck, den er im Baustellenverkehr laufen lässt. Den Freightliner hat er 2005 fast neu über einen ehemaligen Klassenkameraden günstig erstanden. Der verdient sich in den USA mit dem Export amerikanischer Lkw nach Russland eine goldene Nase. Die Amerikaner gehören fest zum Bild auf Russlands Fernstraßen. Einzig ein Problem belastet Aleksandr jetzt noch: "Bis 2018 muss der Lkw mit einem digitalen Kontrollgerät ausgestattet sein. 40.000 Rubel, circa 7000 Euro, kostet der Umbau und je Fahrerkarte sind nochmal 125 Euro zu investieren", stöhnt er.
Parallel zum Transportgeschäft unterhält Aleksandr einen kleinen Parkplatz. Mit 2,50 Euro pro Nacht und Lkw ist er so teuer wie große Raststätten. Zwar ist das Serviceangebot kleiner, er ist aber trotzdem immer ausgebucht. Schließlich herrscht zwischen Moskau und dem 3500 Kilometer entfernten Novosibirsk erstaunlich dichter Lkw-Verkehr. Es gibt zwar keinen Parkplatznotstand wie in Europa, doch auch entlang der Federalna stehen die Lastwagen nachts dicht gedrängt. Erst weiter östlich, zum Baikalsee hin, entspannt sich die Lage. Es fällt auf, dass die wenigsten Raststätten ernsthaft bewacht werden. Das passt so gar nicht ins düstere, gefahrenschwangere Bild, das Europäer von dem Land haben. Nur einige Rasthöfe sind von Mauern umgeben. Die meisten jedoch haben nicht mehr als ein Pförtnerhäuschen, an dem der Obolus für die Nacht entrichtet wird. Tatsächlich ist Russland Richtung Osten sehr sicher für Fahrer und Transporteure. Schnitte in der Plane und Ladungsdiebstähle sind, anders als in Europa, die Ausnahme. Überfälle auf Fahrer scheint es gar nicht zu geben.
Was das perfekte Bild allerdings trübt, ist das Erpressen von Wegezöllen. Das ist nach Berichten von Fahrern in der Region Tscheljabinsk und Novosibirsk an der Tagesordnung. Dort werden Lastwagen vom Pkw aus zum Anhalten aufgefordert und 400 oder 500 Rubel (sieben oder acht Euro) kassiert. Weigert sich ein Fahrer zu zahlen, fliegen Steine in die Frontscheibe oder es werden Reifen aufgeschlitzt. Die meisten Fahrer zahlen wohl. 400 bis 500 Rubel, das ist viel Geld, auch wenn Fernverkehrs-Chauffeure mit Gehältern zwischen 1200 und 1500 Euro zu den Besserverdienenden gehören. Damit ziehen sie beim Einkommen in etwa gleich mit dem Durchschnitt russischer Beamter. Bezahlt wird nach Kilometerleistung. Meist gibt es bis 7000 Kilometer 12 Eurocent, drüber 14 Eurocent. Interessant ist, dass im Nachbarstaat Kasachstan Fahrern die gleichen Löhne gezahlt werden.
POLIZEIKONTROLLEN VERLAUFEN IM ALLGEMEINEN KORREKT
Das führt dazu, dass russische Chauffeure oft im Nachbarland angestellt sind, wenn Unternehmen dort attraktivere Fahrzeuge und Routen haben. So wie Wladimir Smietanin aus Omsk , der sich vor ein paar Monaten bei einem kasachischen Transporteur beworben hat. Jetzt fährt der 50-jährige Familienvater für rund 1500 Euro monatlich mit einem neuen Volvo Kühltransporte von Russland über Kasachstan nach China. Das einzige, was ihn daran nervt, sind korrupte kasachische Polizisten, denen er jetzt regelmäßig begegnet. Von seinen Fahrten durch Russland ist er das schon lange nicht mehr gewöhnt.
Seit Mütterchen Russland den ehemals ausufernden Polizeiapparat verschlankt hat und den Uniformierten bessere Löhne zahlt, müssen die sich seltener nebenher Geld beschaffen ...
Auch Lkw-Kontrollen durch die Verkehrspolizei DPS, die doroschna-patrulnia-sluschba, übersetzt "Straßen Patrouillen-Dienst", verlaufen heute im Allgemeinen korrekt. Wie sagt es Aleksandr Savitskaya, der mit seinem neun Jahre alten, ehemals in Deutschland zugelassenen Scania Möbel zwischen St Petersburg und Krasnojarsk transportiert: "Probleme mit der Polizei habe ich nicht ..., die lassen sich regeln!"
Tatsächlich gehören Kontakte mit der DPS, die etwa der deutschen BAG entspricht, zum Tagesgeschäft. Wer wie Aleksandr pro Woche rund 4000 Kilometer zwischen Sibirien und Ostsee zurücklegt, passiert regelmäßig die fest installierten Posten. Dort muss jeder Truck über die Achswaage, einzelne werden herausgezogen und intensiver überprüft. Dabei interessieren sich die Behördenvertreter nicht für den Zustand der Reifen: Der scheint Sache des Fahrers und Unternehmens zu sein. Mit Verkehrssicherheit werden abgefahrene Reifen in Russland auf jeden Fall nicht in Verbindung gebracht.
Schier unglaublich ist auch die Menge an Geschwindigkeitskontrollen im Umfeld größerer Städte. Jede zweite Ortschaft ist gepflastert mit fest installierten Messgeräten. Außerhalb lauern Radargeräte am Straßenrand und Polizisten mit Radarpistole im Anschlag. Das ist wohl dem Umstand geschuldet, dass russische Autofahrer gerne schnell unterwegs sind. Einige spielen dabei buchstäblich russisches Roulette. Anders kann man es nicht bezeichnen, wenn Pkw direkt vor Straßenkuppen zum Überholen von Lastwagen ansetzen, in unübersichtlichen Kurven mit wahnwitziger Geschwindigkeit an Fahrzeugkolonnen vorbeirasen oder in voller Fahrt rechts auf dem geschotterten Standstreifen überholen. Die Folge sind schlimmste Unfälle mit Schwerverletzten und Toten, bei denen regelmäßig auch Lastwagenfahrer zu den Opfern zählen. Wobei auch einzelne Lkw-Fahrer nicht gerade wie Heilige unterwegs sind.
Mit solchen Wahnsinnigen und den teils riesigen Schlaglöcher, die sich schon wieder auf der renovierten Federalna auftun, bleibt Lastwagenfahren zwischen Moskau und Wladiwostok also noch immer ein Abenteuer.