Gibt es jetzt schon Priester, die in ihrer Freizeit Lastwagen fahren? "The Vicar" steht als Namensschild hinter der Windschutzscheibe eines dunkelblauen Volvo FH 460, der sicher auch schon bessere Tage gesehen hat. Gordon, ein schmaler Mittvierziger, lenkt den Truck. Er sieht aus wie Dutzende andere Lkw und gehört dem Transportunternehmen McPherson, das ungefähr einhundert solcher Züge besitzt. "Nein," lacht er, "Priester bin ich nicht. Aber weil wir ebenso wie diese an so vielen Sonntagen arbeiten müssen, habe ich mir gedacht, dass das ein passender Spitzname ist."
Gordons Sattelzug steht in der Ecke eines Industriegebiets irgendwo an der A 96 zwischen Inverness und Elgin im Norden Schottlands. Je weiter man sich vom dichter besiedelten Süden des Vereinigten Königreichs in den Norden vorwagt, desto seltener werden Truckstops. Die Fahrer machen ihre vorgeschriebenen Pausen am Straßenrand, in schmalen Parkbuchten oder Gewerbegebieten. Auch Gordon liest in seiner Pause Zeitung und isst seine mitgebrachten Stullen. Sein Sattelzug sieht völlig unscheinbar aus, wenn man von den diversen "Altersflecken" einmal absieht. Nur ganz hinten, am Heck des Aufliegers, gibt es einen großen Unterschied zu den Trucks vieler Kollegen: Gordon hat seinen Auflieger vollgepackt mit Whisky, deshalb wurden die Portaltüren vom Zoll verplombt. Ladung und Truck bilden einen eigenartigen Kontrast: Als Besucher reist man jedenfalls mit der illusorischen Vorstellung in dieses Land, dass bester schottischer Whisky, der zum Teil als Luxusgut zu horrenden Preisen gehandelt wird, nicht gerade auf einem abgetakelten Lastwagen - dem man sein Alter deutlich ansieht, durch die Gegend gefahren wird.
WIE ÜBERALL IN EUROPA: ZUFRIEDENE NEBEN FRUSTRIERTEN FAHRERN
Für Gordon ist die Whisky-Ladung tägliches Geschäft. Er transportiert das Zeug regelmäßig von den Brennereien zu Abfüllbetrieben oder Distributionszentren. Seit 1995 arbeitet er als Trucker und fährt in ganz Großbritannien sowie in Nordirland. Wie viele Meilen er im Jahr macht? Der Brite weiß keine Antwort darauf. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass das Fahren für ihn nur noch ein Job ist, und keine Leidenschaft mehr oder eine Profession, die man mit Freude macht. "Die Arbeit ist nicht mehr gut," stellt er nüchtern fest. "Es gibt zu viele Regulierungen, die von der Regierung und vor allem von der EU kommen."
Eine Klage, die man immer wieder hört von den Fahrern. Vor allem, wenn sie kurz vor dem Ziel ihre verordneten Pausen machen müssen, weil sich der Digi-Tachograph so schwer damit tut, kleine Übertretungen nach ein paar Tagen zu vergessen. Und im dünn besiedelten Norden ist es mitunter schwierig, auf den schmalen Nebenstrecken passende Parkplätze zu finden.
ENGE STRASSEN UND STÜRMISCHES WETTER: DER ENGLÄNDER HAT ANGST
Ross ist einer der Fahrer, die noch ziemlich zufrieden sind mit ihrem Beruf, den er seit 19 Jahren macht: "In meiner Firma ist es ganz gut. Wir haben nicht jeden Tag den ganz großen Druck, die Touren passen meistens ziemlich gut." Der kamerascheue Ross, der behauptet, er sehe nicht gut genug aus für ein Foto, hat mit seinem MAN gerade eine Ladung Kohle aus Invergordon geholt, die für Manchester in England bestimmt ist. Dort unten hätten die englischen Kollegen auch erheblich mehr Probleme mit osteuropäischen Fahrern, die für deutlich weniger Geld arbeiten - aber nach Schottland komme von denen kaum einer hoch.
Kollege Tom ist Engländer und erst vor einer Woche nach Schottland gezogen. "Jetzt geht es ganz gut, auch wenn die Straßen oft ziemlich eng sind. Aber sie sagten mir, dass es im Winter hier oben ziemlich hart werden wird," schildert der Engländer seine Befürchtungen. Da ist es wieder, das berüchtigte Wetter, das im Norden noch schlimmer ist als im Süden des Reichs der ewigen Queen Elizabeth. Kaum tut sich zwischen tiefgrauen Wolken ein kleines blaues Loch auf, durch das ein Sonnenstrahl seinen Weg findet, schwärmen die Schotten von einem "lovely day". Für Mitteleuropäer würden die Temperaturen, bei denen die schottischen Girls ihre dünnen Oberteile mit Spaghettiträgern ausführen, allenfalls für einen lausigen Tag reichen. Schließlich bestätigt Tom noch die Einschätzung seines Kollegen Ross: "Die Jobchancen sind momentan in England oder Schottland gleich gut. Aber es stimmt schon, im Süden gibt es inzwischen viele Osteuropäer, die in den Job drängen."
Auch Toms aktueller Auftrag hat mit dem schottischen Nationalgetränk zu tun: Er fährt mit dem Kippsattel eine Ladung der speziellen Braugerste in eine Distillery, die das Getreide zu Whisky veredeln wird. Es dauert nicht lange, ehe wir Jimmy und Callum treffen, zwei weitere Fahrer, die ihren Beruf mögen, aber an den Rahmenbedingungen einiges auszusetzen haben. "Ein Deutscher fragte mich mal, warum die Lastwagenfahrer hier alle so alt sind," lacht Jimmy. "Das ist doch kein Wunder, wenn du dir ansiehst, was die Class 1-Lizenz mittlerweile kostet. Wer von den Jungen kann sich denn fünf- oder sechstausend Pfund dafür leisten?"
PROFITE IN DER ÖLINDUSTRIE, SOZIALE SCHIEFLAGE IN ABERDEEN
Vielleicht kommt Jimmys schlechte Laune ja auch daher, dass sein Tag nicht gerade optimal verlief: "Heute morgen hatte ich einen Platten am Trailerreifen. Die Ironie musst du dir mal vorstellen: Meine Ladung heute sind nagelneue Trailerreifen von Conti! Aber die gehören mir natürlich nicht, und deshalb hat es drei Stunden gedauert, bis ich Ersatz bekommen habe", schimpft er in hartem nordenglischen Dialekt.
Callums Kritik zielt mehr auf die soziale Schieflage in seiner Heimatstadt Aberdeen. Wenngleich er der Meinung ist, "wir arbeiten zu viele Stunden und erhalten zu wenig Lohn dafür. Was sollen wir mal tun, wenn wir alt sind? Von der government pension, die wir für das übliche Trucker-Gehalt bekommen, kann man später nicht leben." Aberdeen hat sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht als Drehscheibe für die Ausbeutung des britischen Anteils am Nordseeöl. Die Stadt boomt und Callum, der scaffold boy (er hat früher oft Gerüstteile gefahren und wird deshalb "Gerüstjunge" genannt), sagt: "Edinburgh ist zwar die Hauptstadt Schottlands. Aber in Aberdeen sind die Immobilienpreise viel höher als dort. Ja, hier gibt es unglaublich viel Geld und ganz viele Leute wollen ein Stück vom großen Kuchen. Schau dir mal die Gewinne von BP oder Shell an. Aber was kommt davon ganz unten an, zum Beispiel bei uns Lastwagenfahrern? Ich finde, der Geldfluss müsste besser gefiltert werden. Hier wird alles exorbitant teurer, aber unsere Löhne steigen nicht im gleichen Maß."
Ihre Löhne, die vielen Vorschriften oder teure Führerscheine - das sind Themen, die viele schottische Fahrer bewegen, die aber auch bei ihren Kollegen in anderen Ländern als Dauerbrenner immer wieder für Zoff sorgen. Wenn der Eindruck nicht täuscht, verblasst das in Schottland aber alles hinter einem Thema, das im vergangenen Jahr nur vordergründig abgehakt wurde: Die Befürworter der Unabhängigkeit des früheren Königreichs sind zwar in der Volksabstimmung knapp unterlegen - vom Tisch sind die Pläne deswegen aber noch lange nicht. An vielen Stellen sieht man noch die Parole "Yes" auf Häuserwänden oder Plakaten, und auch Gary ist ein glühender schottischer Patriot. Was man ihm und seinem Truck deutlich ansieht. Ein rotes Tartanmuster ("Schottenkaro") und der Schriftzug Scotland ziehen sich über das Fahrerhaus seines hellblauen Volvo FH 560. Ein Hinweis auf seine Herkunft aus Aberdeenshire, stilgerechte Vorhänge sowie die beiden Flaggen (die offizielle sowie die Flagge des schottischen Königshauses mit dem steigenden Löwen) ergänzen den patriotischen Auftritt. "Selbstverständlich habe ich mit Yes gestimmt!" Für Gary ist es kein Problem zu verraten, wo er in der Wahlkabine sein Kreuz gemacht hat.
Wie das Gros der heavy trucks in Großbritannien, rollt auch Garys Zug wegen der höheren Tonnage auf drei plus drei Achsen, die Gesamthöhe beträgt 4,40 Meter. Weil der Auflieger so hoch ist, schafft es Gary alleine nicht, die Plane, die das Dach bildet und nach dem Laden vom Wind aus der Halterung gedrückt wurde, wieder an Ort und Stelle zu schieben.
SCHOTTLAND IST KEIN UNABHÄNGIGES LAND, ABER WELTBERÜHMT
Nachdem wir das Problem gemeinsam gelöst und uns über schottische Patrioten unterhalten haben, verabschiedet sich der Trucker. Er muss seine Ladung schnellstens zu einer Viehfutterfabrik bringen. In Russland hätten sie aus den Kartoffeln möglicherweise Wodka gebrannt. Hier, in diesem wilden, rauhen Land an der Nordwestecke Europas, haben sie beizeiten gelernt, etwas Feineres zu produzieren. Die überzähligen Kartoffeln sind fürs Vieh bestimmt. Nach dieser Tour fahren Gary oder irgend ein anderer Kollege wieder Premiumgerste in eine der zahlreichen Schnapsfabriken. Schottland ist zwar (noch) nicht unabhängig, aber dank seines Nationalgetränks weltberühmt - und unglaublich stolz darauf.