Diese Zahlen lösen ungläubiges Staunen aus: 80 bis 90 Prozent der Bußgeldbescheide, die wegen Verstößen gegen die Sozialvorschriften ausgestellt werden, sind zu beanstanden. Das schätzt zumindest Daniela Mielchen. Sie ist Fachanwältin für Verkehrsrecht in der Hamburger Kanzlei Mielchen & Coll und hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Vorwürfe in Bescheiden schlichtweg nicht stimmen.
Gründe dafür sind nach ihrer Ansicht mangelhafte Rechtskenntnis und die schematische Bearbeitung der Daten der Kontrollbehörden. Die wenigsten Mitarbeiter in den Bußgeldstellen der Bundesländer hätten eine juristische Ausbildung, sagt die Rechtsanwältin: "Viele Normen werden deswegen falsch angewandt."
Fehler schleichen sich laut Mielchen insbesondere bei der Interpretation der Kontrollergebnisse des Bundesamtes für Güterverkehr (BAG) und der Polizei ein. Beide überprüfen, ob die Lenk- und Ruhezeiten eingehalten werden und übergeben bei Verstößen an die Verfolgungsbehörden. Die dortigen Sachbearbeiter werten die Daten mithilfe von Computern aus - allerdings denkt die Technik nicht immer mit.
SACHBEARBEITER MÜSSTEN KORRIGIEREND EINGREIFEN
"Wenn man seine Ruhezeit nachts kurz unterbricht, um 20 Meter weiterzufahren, weil die Polizei einem sagt, dass man an dieser Stelle nicht parken darf, wertet der Computer die Ruhezeit nicht und addiert die Lenkzeit des nächsten Tages dazu", sagt die Juristin. Und das könne 1200 Euro kosten. "Hier müsste der Sachbearbeiter eigentlich korrigierend eingreifen und die Ruhezeit als solche werten", betont Mielchen.
In einem anderen Fall habe der Computer bei 20 Lenkzeitüberschreitungen von jeweils fünf Minuten innerhalb eines Zeitraums von 28 Tagen ein Bußgeld von rund 600 Euro errechnet. "Hier muss man ernsthaft den Strafzweck und die Verhältnismäßigkeit der Strafe hinterfragen", betont die Verkehrsrechtsexpertin. Bei einer manuellen Schaublattauswertung hätten die Beamten früher oft ein Auge zugedrückt.
BEAMTEN MANGELT ES AN RECHTSKENNTNIS
Bei der Ahndung von Verstößen fehlt es anscheinend aber nicht nur oft an Fingerspitzengefühl, sondern auch an Souveränität im Umgang mit den geltenden Vorschriften: So wüssten die Mitarbeiter der Verfolgungsbehörden zum Teil nicht, wann Fahrlässigkeit oder Tateinheit zugrunde zu legen ist, so Mielchen. Beide Annahmen führten jedoch zu deutlich niedrigeren Geldbußen.
Demzufolge passiert es immer wieder, dass bei Verfahren gegen den Fahrzeughalter die Einzelgeldbußen addiert werden, wodurch zum Beispiel nach Betriebsprüfungen nicht selten Bußgeldbescheide im sechsstelligen Bereich zustande kommen.
In der Regel müsse man beim Halter aber von Tateinheit ausgehen mit der Folge, dass eine Addition der Einzelgeldbußen ohne die Höchstbegrenzung nicht sachgerecht sei, sagt Mielchen. "Denn werden innerhalb eines bestimmten Zeitraums diverse Verstöße mehrerer Fahrer festgestellt, liegt nach obergerichtlicher Rechtsprechung nur ein einheitlicher Verstoß des Unternehmers vor", erklärt die Rechtsanwältin.
Dieser sei darin zu sehen, dass er über einen längeren Zeitraum seiner Überwachungspflicht nicht nachgekommen ist, indem er Belehrungen und regelmäßige Kontrollen des Fahrpersonals unterlassen habe. "Die Geldbuße beträgt dann bei Fahrlässigkeit maximal 7500 Euro und bei Vorsatz höchstens 15.000 Euro." Doch dies sei nicht die einzige Wissenslücke: Regelmäßig würde auch verkannt, so Mielchen, dass man die Fahrzeitunterbrechung aufteilen darf. Und, dass nur eine Geldbuße für die Überschreitung der Doppelwochenlenkzeit festzusetzen ist: "Lenk- und Ruhezeitenverstöße, die während zwei aufeinanderfolgender Wochen begangen wurden, dürfen nur tateinheitlich und somit mit dem halben Bußgeldregelsatz geahndet werden."
MEHRFACHAHNDUNGEN SIND OFT UNBERECHTIGT
Ein weiteres Problem sei, dass die Sachbearbeiter nicht nur den Fahrer zur Kasse bitten, sondern auch gern pauschal gegen den Halter vorgehen. Hat der Halter seine Verantwortung delegiert, kann neben dem Disponenten der Verkehrsleiter der Adressat des Bußgeldbescheids sein. "Wenn Fahrer und Halter für denselben Verstoß haften sollen, ist das oft nicht berechtigt", sagt Mielchen. Eine Mehrfachahndung erlaube das Gesetz nur, wenn eindeutig erkennbar sei, dass der Fahrer nicht allein schuld gewesen ist.
Dies sei unter anderem denkbar, wenn sich nachweisen lasse, dass der Halter seine Aufsichtspflicht nachhaltig verletzt hat, sagt die Rechtsanwältin aus Hamburg. Ebenso brauche es Anhaltspunkte, um den Disponenten mit einer Geldstrafe zu belegen: "Zum Beispiel, wenn er bereits mehrfach wegen Verstößen aufgefallen ist und erneut dieselbe Tour disponiert, obwohl er aufgrund eines anderen Verfahrens bereits wissen musste, dass sie unter Einhaltung der Vorschriften nicht durchführbar ist", so Mielchen.
BEI FAHRLÄSSIGKEIT IST DAS BUSSGELD ZU HALBIEREN
Die im Bußgeld- und Verwarnkatalog für Zuwiderhandlungen gegen die Sozialvorschriften festgesetzten Beträge sind unverbindliche Regelsätze, die von gewöhnlichen Tatumständen ausgehen - und davon, dass jemand vorsätzlich gehandelt hat. "Häufig sind die Umstände der Tat aber eher ungewöhnlich oder es wird fahrlässig gehandelt. Bei solchen Verstößen ist das Bußgeld zu halbieren", sagt Mielchen. Der Gesetzgeber lasse den Behörden bei der Verfolgung von Lenk- und Ruhezeitsündern zwar erhebliche Ermessensspielräume. In der Praxis zeige sich aber, dass die Anwendung der im Buß- und Verwarngeldkatalog benannten Regelsätze bisweilen zu einer völlig unverhältnismäßigen Ahndung führe und je nach Bundesland und Verfolgungsbehörde verschiedene Maßstäbe angesetzt würden.
Kommt es zu einem Bußgeldverfahren, bekommen die Betroffenen einen Anhörungsbogen vorgelegt, auf dem die vermeintlichen Verstöße aufgelistet sind. Mielchen rät davon ab, diesen achtlos beiseite zu legen und den in dem späteren Bußgeldbescheid angegebenen Betrag zu überweisen. Gleichzeitig warnt sie davor, selbst gegen einen Bußgeldbescheid vorzugehen. "Fahrer bekommen keine Akteneinsicht und die wenigsten kennen sich mit der Rechtslage aus", erklärt die Rechtsanwältin. Sofern es nicht um Peanuts gehe, rechne es sich stets, einen Spezialisten für die Sozialvorschriften einzuschalten.
STELLUNG NEHMEN? NICHT OHNE DEN RAT DES ANWALTS
Der Rat vom Anwalt sei allein deshalb notwendig, weil eine eigenverantwortlich abgegebene Stellungnahme schnell nach hinten losgehen kann: "Wer meint, sich durch eine selbst formulierte Einlassung rausreden zu können, verschlimmert dadurch mitunter seine Situation bloß und haut dabei noch andere in die Pfanne", sagt Mielchen. Ein Beispiel: Wenn der Fahrer im Anhörungsbogen angibt, dass er sich aus Sorge um seinen Arbeitsplatz an die ordnungswidrigen Vorgaben seines Chef gehalten hat, könnte die zuständige Behörde ihm Vorsatz unterstellen und das Bußgeld verdoppeln - auch der Unternehmer wäre dann in der Haftung.
Bei Verstößen gegen die Sozialvorschriften bewegt sich die Höhe der Bußgeldbescheide in der Regel zwischen 200 und 2000 Euro. Die meisten davon würden einfach bezahlt, obwohl gute Chancen bestünden, die Geldstrafe durch einen Einspruch zu reduzieren, so Mielchen. "Viele Unternehmen befürchten, dass ihnen eine Betriebsprüfung bevorsteht, wenn sie gegen Bußgeldbescheide vorgehen", sagt sie. Das liege daran, dass oft dieselbe Behörde für die Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten und für Betriebsprüfungen zuständig ist.
Diese Sorgen sind allerdings unbegründet: Laut Mielchen kommen die Beamten einsichtigen Sündern häufig entgegen. Selbst in Fällen, in denen mit Termindruck argumentiert wird, ließen diese sich mitunter auf eine mildere Geldstrafe ein. Glaubt man der Hamburger Rechtsanwältin, so ist eine Reduzierung auf 30 bis 10 Prozent des ursprünglich verhängten Bußgelds möglich.