Würde der rote Actros hier nicht in der Mitte stehen, könnte dieser Raum inmitten des Mercedes-Benz-Werkes in Untertürkheim ohne Weiteres eine Kulisse für die Serie „Raumschiff Enterprise“ darstellen: Es ist geheimnisvoll halbdunkel, Fußboden und Wände glänzen klinisch sauber, hinten scheint der Raum in einem großen Bogen im Nichts zu enden. Zudem gibt es keine Ecken oder Kanten, alles ist auffällig rund und glatt.
Der Grund dafür: Luft soll hier möglichst ungehindert strömen können, denn wir befinden uns im daimlereigenen Windkanal. Bereits seit 80 Jahren geht es hier um Aerodynamik, womit die Anlage die weltweit älteste ihrer Art sein dürfte. Die Technik, die den nötigen Wind erzeugt, stammt dabei noch weitgehend aus den Anfangsjahren: Riesige, 8,5 Meter messende Stahl-Windschaufeln beschleunigen die Luft im Raum auf bis zu 250 km/h. Die dafür nötige Power liefert ein 5000 Kilowatt starker Elektromotor, der seine Kraft über ein aus dem Schiffsbau stammendes Getriebe überträgt.
Auch Flugzeuge und Rennradler waren hier schon zu Gast
Selbst streng geheime Flugzeug-Prototypen waren in den 50er-Jahren schon zu Gast in Untertürkheim. Ebenso mancher Rennradprofi auf der Suche nach der windschlüpfrigsten Sitzposition, das allerdings natürlich bei einer deutlich niedrigeren Windgeschwindigkeit.
Auch die 60 bis 85 km/h, die für den roten Actros nötig sind, stellen für den Propeller keine Herausforderung dar. Der Wind kann die Kabine dabei nicht nur von vorne, sondern auch deutlich verbrauchs-ungünstiger seitlich anströmen, wofür die Zugmaschine auf einem Drehteller steht.
Unzählige Stunden verbrachte das aktuelle Actros-Modell während seiner Entwicklungszeit im Windkanal. Schließlich gehen bei einem 40-Tonner allein 13 Prozent der Dieselenergie nur dafür drauf, um den Luftwiderstand des Lkw zu überwinden. Die Aerodynamik des Fahrzeuges möglichst windschlüpfrig zu gestalten, senkt folgerichtig den Verbrauch und hilft den CO2-Fußabdruck des Lastwagens zu verkleinern. Rein rechnerisch hätte eine Verbesserung des CW-Wertes – also die Formbeschaffenheit des Lkw – um zehn Prozent eine Verbrauchsverbesserung von nicht weniger als drei Prozent zur Folge. Da selbst kleinste Details einen Einfluss haben können, nahmen die Daimler-Ingenieure zum Actros-Modellwechsel nochmals alle Bauteile unter die Lupe. Nur ein Beispiel ist die bisherige Spoilerlippe am unteren Teil des Frontstoßfängers, die das aktuelle Modell nun nicht mehr trägt.
Einen ungleich größeren Einfluss haben die Mirror-Cams, welche Platz und Funktion der bisherigen Außenspiegel einnehmen. Mittels einer Luftlanze werden beim alten Modell deutliche Windverwirbelungen im Bereich der Außenspiegelgehäuse erkennbar.
Im Gegensatz dazu umfließt der Fahrtwind die aerodynamisch geformten Mirror-Cams nahezu ungestört. Weshalb das Kamerasystem allein für 1,5 Prozent der von Mercedes-Benz versprochenen Verbrauchssenkung von drei Prozent verantwortlich sein soll – bezogen auf das Vormodell.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass es den Daimler-Aerodynamikern nach eigener Aussage regelmäßig „die Tränen in die Augen treibt“, wenn sich Kunden nachträglich Lampenbügel oder Bullfänger an ihren Actros schrauben und damit das aerodynamische Gesamtkonzept zunichtemachen.
Schließlich hat man den negativen Einfluss solcher Anbauteile bereits im Windkanal bewiesen. Schon zwei offen am Dach aufgebaute Lufthörner verschlechtern laut Daimler die Aerodynamik des Gesamtfahrzeuges um mindestens ein Prozent. Ungleich höher fällt dieser Wert aus, wenn noch Lampenbügel oder Bullfänger hinzukommen, ein nicht zu vernachlässigender Mehrverbrauch sei daher einzukalkulieren.
Beim Actros wirkt sich die Sonnenblende negativ aus
Und wie sieht es mit der aus optischen Gründen ebenfalls beliebten Sonnenblende oberhalb der Frontscheibe aus? Hier wollen die Daimler-Ingenieure nur für ihr eigenes Produkt ein eindeutiges Statement abgeben: Beim Actros wirke sich die Blende in jedem Fall nachteilig auf den Verbrauch aus, es gäbe aber Lastwagen-Modelle, bei denen dieses Anbauteil zum aerodynamischen Gesamtkonzept gehöre – so wie es beispielsweise DAF für seine Lkw-Modelle CF und XF propagiert.