Lange hat er sich geziert, der New Actros, bis er sich endlich und erstmals auf die Supertest-Runde wagte. Doch wir wollen Mercedes nicht böse sein. Immerhin haben uns die Stuttgarter einen besonderen Dienst erwiesen: Nicht nur, dass wir ihr derzeitiges Flaggschiff, den 1851 Gigaspace bekamen. Der TRUCKER durfte nach zwei Euro-6-Scanias exklusiv und erstmals den mit Spannung erwarteten Test mit einem Euro-6-Daimler machen.
Danach nicht in Lobeshymnen auszubrechen, fällt schwer - wir hören schon die ersten Mahner in der Leserschaft, die uns "Sternsinger" schelten. Aber der Neue ist nun mal wirklich sehr gut gelungen. Der OM471-Sechszylinder läuft ruhig und im Gegensatz zum V6 aus dem Vorgänger sahnig und vibrationsarm. Zudem kommt er mit Drehzahlen aus, bei denen der V-Motor absolut keine Lust auf Arbeit gehabt hätte. Der Vierventiler, von einem asymetrischen Turbolader beatmet, lässt sich sogar problemlos mit 800 Touren über die Kuppe tragen.
GESCHMEIDIGES GETRIEBE UND EINE 400 KW STARKE MOTORBREMSE
Mit der Generation Powershift 3 hat Mercedes die automatisierte Schaltbox noch mal verfeinert. Vorbei die Zeit rupfender Kupplungen oder bösartiger Schaltschläge. Selbst in Extremsituationen - unter Volldampf in der Steigung - wechselt der "Automat" geschmeidig die Gänge, stellt ohne großen Kupplungsschlupf den Kraftfluss wieder her und gibt sich an keiner Stelle der 500 km langen Teststrecke die Blöße, den falschen Gang einzulegen. Das Umfeld der Schaltbox zeigt sich ebenfalls gelungen. Egal ob der neue Lenkstockhebel, der jetzt alle Funktionen der Schaltung vereint, oder das perfekt arbeitende PPC (Predictive Powertrain Control, GPS-gestützter Tempomat mit Gangwahlbeeinflussung). Es gibt kaum Anlass zu Kritik.
Speziell PPC hinterlässt im Testfahrzeug einen sehr guten Eindruck - wenngleich es einem als Fahrer vor Augen führt, dass Kollege Computer inzwischen mehr auf dem Kasten hat als die meisten von uns. Beim Test fuhren wir mit 85 km/h Marschgeschwindigkeit und einem Intervall von plus/minus 5 km/h. Vor der Kuppe nimmt PPC exakt so viel Gas weg, dass wir mit ganz geringer Toleranz tatsächlich mit 80 km/h über den Berg kommen. Und bergab stehen 90 an, was einen Eintrag im Digi-Tacho wegen "Überhöhter Geschwindigkeit" vermeidet. Übrigens warnt der New Actros 15 Sekunden vor der Minuten-Grenze. Zu schnell zu fahren sollte also einem Mercedes-Piloten nicht mehr passieren ...
Weil das Fahrzeug bei dieser Einstellung nicht zu langsam wird, gibt's auch kaum Auflaufprobleme mit Kollegen im rückwärtigen Verkehr - wie wir sie beim Test des ähnlichen Systems von Scania (CCAP) schon mal hatten. Da fühlten sich viele ob des gewaltigen Geschwindigkeitsverlustes des Schweden vor der Kuppe zum Überholen genötigt, kamen dann aber im folgenden Gefälle nicht vorbei.
Ein kleines Manko hat PPC dennoch, wie wir im direkten Vergleich mit unserem eigenen New Actros 1845 ohne PPC feststellen konnten: Durchs Gaswegnehmen vor den Kuppen wird die Fuhre langsam. Trotz 60-Mehr-PS ist der 1851 nur sechs Sekunden schneller auf der großen Testrunde. Allerdings - und das ist die eigentliche Sensation - schlägt er im Verbrauch den 45er-Streamspace ohne PPC. Die Werte auf unserer neuen Testrunde lassen sich nur bedingt mit den alten Werten vergleichen. Aber knapp über 27 Liter pro 100 km dürften ein Wert sein, mit dem der New Actros dem Wettbewerb die Latte ziemlich hoch legt. Die Detailergebnisse, die wir jetzt für nahezu jeden Bedarf in neun(!) verschiedene Einsatzfälle aufgeschlüsselt haben, stehen auf Seite 34 zum genauen Studium.
DER NEUE IST EINE GANZE SPUR HÄRTER ABER NOCH KOMFORTABEL
Wer ein Fan des "Actros bewährt" ist, wird mit dem Neuen nicht auf Anhieb warm. Waren MP2 und MP3 Anhänger der soften Schule, schlägt der Neue eine härtere Gangart ein. Mit straffer Federung, direkter Lenkung und neuen Achsanbindungen zeigt er, dass auch die Schwaben agile Fahrwerke bauen können. Anhängern der kommoderen Linie sei aber mit auf den Weg gegeben, dass der New Actros trotz seiner sportlichen Auslegung durchaus ein komfortabler Laster geblieben ist.
Speziell mit der riesigen Gigaspace-Kabine wiegt der Chauffeur sanft um Kurven und gleitet beschaulich selbst über schlechte Autobahnen. Auch wenn die objektiven Messwerte etwas größere Zahlen ausweisen, bleibt das Geräuschniveau auf angenehm niedrigem Niveau, die Klangkulisse des Motors gefällt mit bulligem Bass.
Auch wenn Mercedes nach eigenen Angaben die Klimatisierung optimiert hat, kann der Neue in punkto Regelgenauigkeit nicht mit dem MP3 mithalten. Eine Änderung der Außentemperatur um zwei, drei Grad führte auch immer gleich zum Temperaturwechsel im Fahrerhaus. Dafür muss sich der Fahrer bei Regen keine Gedanken mehr um den Wischer machen. Gleich zwei unterschiedlich sensible Stufen, von einer Automatik gesteuert, sorgen für optimalen Durchblick. Apropos Blick: Die neuen Spiegel bieten ein deutlich größeres Sichtfeld - auch insgesamt erweist sich der New Actros als übersichtlich. Und vor allem als sicher. Zwar kostet das Safety Plus Paket des Testautos rund 12.000 Euro. Aber wer einmal die Annehmlichkeiten von Abstandstempomat und Stau-Assistent genossen hat, will nie mehr darauf verzichten. Selbst im dicksten Verkehrstreiben reicht es, wenn der Fahrer die Spur hält. Den Rest erledigt die Elektronik. Und keine Angst, das ganze "Zeug" lässt sich auch ausschalten, wenn man mal das urtümliche Bedürfnis hat, wieder selbst die Regie zu übernehmen.
Summa summarum ist der 1851 Gigaspace ein tolles Auto: Klasse Bremsen, Top-Fahrwerk, riesige Kabine und trotz der gebotenen Leistung und Euro 6 ein mehr als akzeptabler Verbrauch. Wer das Haar in der Suppe sucht, wird's bei den technischen Daten finden. Mit acht Tonnen Leergewicht ist der Neue ein rechtes Schwergewicht. Doch früher galt der Begriff "schwerer Wagen" als Kompliment für Solidität und Langlebigkeit. Beim ersten Eindruck zementiert die inzwischen vierte Actros-Generation diesen Ruf. Große Probleme scheint's vorerst nicht zu geben. Und wer die 510 Pferde traben lässt, hat seine helle Freude - auch wenn's dann keine Topverbräuche mehr gibt.
Service und wartung "TÜV proofed" - Der Computer macht fast alles
Um ein unabhängiges Expertenurteil zu bekommen, prüft der TÜV SÜD in Hochbrück bei München alle LKW, die den Supertest absolvieren auf Serienmäßigkeit und checkt Service- und Wartungspunkte. Das Urteil vom TÜV-Experten Dipl.-Ing. Rolf Otten: Das Testfahrzeug entspricht einem serienmäßigen New Actros 1851.
Der Prüf-Experte moniert die beim New Actros unverschlossene Frontklappe, weil sich an den Servicepunkten Unbefugte zu schaffen machen könnten. Zudem gefällt ihm weder der zum Gehsteig mündende Auspuff, noch das auf der Verkehrsseite positionierte, klappbare Sideflap links. Dass sich die Füllstände der diversen Betriebsflüssigkeiten gänzlich per Bordcomputer prüfen lassen, findet grundsätzlich seinen Gefallen. Allerdings vermisst er zumindest einen Ölpeilstab, um auch die Konsistenz des Schmiermittels prüfen zu können. Zudem muss für viele Wartungspunkte die Kabine gekippt werden. Das Wartungskonzept mit bis zu 150.000 km Intervall sowie wartungsfreiem Fahrgestell findet Zuspruch beim Experten. Aus Sicht des TÜV-Prüfers könnten einige Prüfanschlüsse weniger versteckt angebracht sein. Das gilt auch für den optionalen Reifenfüllanschluss innen am Rahmen. Dafür sind Kraftstoffpumpe samt Handpumpe sowie Öl- und Kraftstofffilter günstig platziert.
AUSSTATTUNG UND PREISE - Ein Traum von Haus
Bei der Ausstattung des Test-Actros verfuhren die Mercedes-Mannen wohl nach dem Motto: "Einmal komplett, bitte!" Alles was gut, aber eben auch teuer ist, hatte unser 1851 an Bord. Zum Grundpreis addieren sich so stolze 56.583 Euro allein für die Zusatzausstattung! Womit locker die 200.000-Euro-Grenze gesprengt wurde. Was der Kunde für diese stolze Summe erhält? Ganz einfach: Den ultimativen Fahrer-Motivator. In der riesigen Giga-Space-Hütte lässt sich fast ein Echo erzeugen!
SOLO-STAR VERSÜSST DEN FEIERABEND
Vor allem, weil der Sechszylinder (zumindest subjektiv) noch mal deutlich leiser seinen Dienst verrichtet als im Referenzfahrzeug mit Stream-Space-Kabine. Ein echtes Komfort-Plus ist auch der im Testfahrzeug verbaute Klimasitz, der dank Belüftung den Rücken vor Schweißbildung schützt. Ebenfalls gönnen sollte man sich die Vierpunkt-Luftfederung der Kabine. Vor allem weil der Neue deutlich härter abgestimmt wurde als der softer orientierte Vorgänger MP3. Vollluftgefedert schluckt die Kabine fast jede Bodenwelle erhaben, entwickelt dann allerdings auch etwas mehr an Eigenbewegungen.
Sobald Antriebsstrang und Fahrer Pause haben, macht sich die 2481 Euro teure "Solo-Star"-Einrichtung bezahlt. In der von Daimler so genannten "Rund ecke" lässt es sich fast wie Zuhause entspannen. Da fehlt eigentlich nur noch ein passender Flat-Screen-TV, der oberhalb der linken Seitenscheibe perfekt wäre ... Reine Geschmackssache ist dagegen die Style-Line-Ausstattung, deren silbern lackiert statt bedampfte Kunststoffblenden wenig wertig wirken. Besser steht dem Flaggschiff unserer Meinung nach die Wurzelholz-Optik des Home-Line-Pakets. Weitaus wichtiger ist aber das Safety-Paket, bestehend aus Abstandstempomat, Notbremsassistent, Spurbindung und "Aufmerksamkeits-Überwacher". Das sollte in jedem Actros drin sein, schließlich können diese Systeme im Ernstfall Leben retten. JB
SPASSFAKTOR
Lust-Laster
Beim 1851 Gigaspace stimmt alles: agiles Fahrwerk, direkte Lenkung, antrittstarker Motor sowie eine geräumige Kabine mit Platz ohne Ende, bequemen Sitzen und exzellenten Betten. Über das Design lässt sich trefflich streiten, es gefällt nicht jedem.
TRUCKER FAZIT
Neuer Spitzenreiter
Wie erwartet, setzt der New Actros eine neue Bestmarke im Supertest. Wir sind zwar weit davon entfernt, "Sternsinger" zu sein. Aber der Neue hat einen exzellenten Motor - kräftig und dennoch sparsam - ein sehr gutes Fahrwerk, wie auch eine direkte Lenkung. Die Kabine bietet Tanzsaal-Atmosphäre, das Getriebe arbeitet zufriedenstellend und die Assistenzsysteme, allen voran PPC, sind einfach top.
TRUCKER-Tester Gerhard Grünig