Quo vadis, Supermacht? In den USA sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich traditionell sehr extrem, doch wird die Kluft zwischen den beiden Polen der Gesellschaft in der seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise noch größer. Einerseits beschert der neue Ölboom (siehe Kasten S. 86) dem Land einen unerwarteten Geldsegen und schafft tausende neuer Jobs, gerade auch in der Trucking-Industrie des Landes. Vielleicht für jene Leute, die in diesen Tagen gut gelaunt auf einem Ölsee schwimmen, läuft im Fernsehen eine Serie mit dem Titel "Open House". In der werden stundenlang Edel-Immobilien von innen und außen vorgestellt: Villen mit Pferdekoppeln und sieben Schlafzimmern, mit offenen Kaminen und millionenschweren Interieurs, die von Innenarchitekten entworfen wurden. Ooops - ist denn nicht in den USA vor nicht allzu langer Zeit eine gigantische Immobilienblase geplatzt, in deren Folge sogar die Weltwirtschaft ins Schlingern geriet? "Open House" verschwendet sicher keinen Gedanken an die bankrotten Häuslebauer und die Verlierer, für die der amerikanische Traum vor kurzem zum Alptraum geworden ist.
EIN ORT WIE EINE HISTORISCHE RUINE: WAS IST MIT VALENTINE PASSIERT?
Auf der anderen Seite muss man nicht lange suchen, um bei einer Reise durch das Land der Immigranten, Tellerwäscher und steinreichen Aufsteiger auf Flecken von erschreckender Trostlosigkeit zu stoßen. Tote Ortschaften wie Orla oder Valentine findet man sofort: Sie sind einfach da, gleich neben den Highways, vermutlich gibt es sie zu Hunderten.
Von Valentine, Texas steht noch das Ortsschild neben dem Highway 90 und darunter: 217 Einwohner. Laut Zensus waren es 2000 noch 187, einige Jahre später rund 130. Wenn der Eindruck nicht trügt, ist davon heute vielleicht noch ein Dutzend übrig geblieben. Wer jetzt hier wohnt, hat entweder mit dem Leben abgeschlossen oder keine andere Chance - oder beides.
Dabei ist das Kaff keine historische Ruine aus dem vorigen Jahrhundert. Sogar einen Prada-Shop gibt es hier, aber der ist natürlich auch verlassen. Keine Spur von Luxus, nur leere Schaufenster, durch deren dicken Staubschleier sich der Asphalt spiegelt. Vom Highway Cafe hat sich ein blassgelber Rest der Fassade gehalten, davor steht ein unnützer Klappstuhl. Eine Tankstelle, Häuser, Werkstätten - alles aufgegeben, vergessen, verfallend. Die Gegend ist sicher keine Glamour-Ecke der Vereinigten Staaten, doch beim bedrückenden Anblick all der verlassenen Häuser fragt man sich, was zum Teufel hier mal ein Prada-Laden verloren hat und was in den letzten zwanzig Jahren mit Valentine passiert sein könnte.
Orla schaut nicht viel besser aus. Kollabierende Holzhäuser, kaputte Scheiben, vergessene Pick-ups und eine Tankstelle, von der nur noch das Gerippe übrig ist, säumen den Highway 285. Die Straße verbindet Sanderson, Texas mit Denver, Colorado und durchläuft dabei New Mexiko. Vor dem ehemaligen Schnapsladen hat John seinen dunkelroten Peterbilt geparkt. Der Truck und sein Fahrer, die seit zehn Jahren zusammen sind, müssen eine Fuhre Heu in die Gegend von San Antonio ziehen. Der Mann hat auch schon bessere Tage gesehen, wie er bereitwillig zugibt. Er hat Probleme mit den dritten Zähnen, ist 59, sieht aus wie 70, lebt seit 41 Jahren im Truck auf der Straße und hat es immerhin geschafft, seit 38 Jahren verheiratet zu sein. Bis 66 muss er noch arbeiten, "wenn sie uns nicht das Rentenalter erhöhen." Wer wie John glaubt, dass früher alles besser war, hat vermutlich schon verloren.
Etwa eineinhalb Fahrstunden weiter nördlich lässt sich das neue Eldorado besichtigen, das die USA wie ein Fleckenteppich überzieht. Hier fallen die trostlosen Winkel weniger auf, zwischen all den Neubauten, die dem Ölfieber zu verdanken sind. In Artesia kreuzen sich die Highways 285 und 82, und wenn man an der Ölraffinerie die Richtung 82 East einschlägt, liegt einige Meilen außerhalb der Stadt der aufgeräumte Yard von Wilburg Trucking. Die Firma gehört mit ihrem Spezial-Fuhrpark eigentlich mehr zur Öl- wie zur Truck-Branche. Rund 60 Trucks und über 100 Angestellte arbeiten für das Unternehmen, das sich auf den Transport von schwerem Bohr-Equipment spezialisiert hat.
Ein harter Job, doch zum amerikanischen Glaubensbekenntnis gehört eben auch die Einschätzung, dass man nur mit harter Arbeit gutes Geld verdienen kann. Billy zum Beispiel hat zehn Jahre als Deputy für das Sheriff's Department in Amarillo, Texas gearbeitet. Ein Job, dem er keine Sekunde lang nachtrauert: "Hier bin ich Supervisor, es ist viel schöner als früher und überdies verdiene ich doppelt so viel wie vorher." Nur die Kugeln waren damals kostenlos, meint ein Kollege feixend. Warum überhaupt jemand für wenig Geld den Ordnungshüter gibt, kann sich Billy nur mit dem Nimbus des Sheriffs erklären. Du trägst den Stern, du bist das Gesetz, du hast die Macht. Er jedenfalls hat damit abgeschlossen. Für ihn sind die neuen Kollegen wie eine Familie: "Da draußen muss jeder seinen Job machen, sonst würde das nicht funktionieren. Und wenn doch einmal einer einen schlechten Tag hat, hilft man sich gegenseitig."
New Mexico hört sich eher nach Süden und Sonne an - doch in der Halbwüste mit den vielen Jacks - die Förderpumpen, die rund um die Uhr rotieren, um das Öl aus der Tiefe nach oben zu befördern - kann es im Winter und in den Frühlingsnächten empfindlich kalt werden. An so einem frostigen Morgen müssen Billy und seine Kollegen knapp zehn Meilen östlich ihrer Basis ein Rig versetzen, das seinen Job erledigt hat. Rig ist eigentlich die Bezeichnung für die typischen Bohranlagen, doch wenn ein Rig umgezogen wird, um ein neues Loch zu bohren, gehört dazu auch die gesamte Peripherie.
An diesem Tag werden es 23 große Ladungen sein, die von fünf eingesetzten Lastwagen im Pendelverkehr einige Wüstenkilometer weiter transportiert werden müssen. Wenn es irgendwie geht, passiert das immer auf den Pisten, die von den Explorationsfirmen in die ebene Landschaft gehobelt wurden - Asphalt und richtige Straßen mögen die Wilburg-Trucker ebenso wenig wie warmes Bier. Denn auf den Straßen lauern die Beamten des DOT, des Department of Transportation. Und dass eilige Trucker, die tonnenschwere Bestandteile eines Rigs lässig mit der Winde auf den Plattformtruck gezogen haben, mit dem DOT nichts zu tun haben wollen, versteht sich von selbst.
Der Umzug von Rig 40 ist für die fünfzehn Mann von Wilburg Trucking und das Dutzend Roughnecks, die zur Stammbesetzung des Bohrturms gehören, ein Knochenjob. Die Roughnecks umweht ein Mythos, wie ihn in den alten Tagen die Cowboys hatten. Die Bezeichnung wird immer mit viel Respekt ausgesprochen, gemeint sind damit die Arbeiter auf den Ölfeldern. Mag sein, dass die Suche nach den Ölvorkommen und ihre Ausbeutung inzwischen den Einsatz von High Tech erfordern - doch beim Umzug eines Rigs ist das wichtigste Hilfsmittel ein uraltes Konstruktionsprinzip: Die Wilburg-Trucker arbeiten in erster Linie mit den diversen Seilwinden auf ihren massiv gebauten Trucks der Marken Western Star, Kenworth und Mack. Vor allem die Fahrzeuge mit dem A-förmigen Ausleger - hier "Gin Trucks" genannt - sind so was wie Allzweckwaffen, die auch mit den schwersten Brocken der Bohranlage fertig werden.
Die Module werden abgebaut und so für den Transport vorbereitet beziehungsweise zwischengelagert, dass die Bohranlage hinterher wieder zügig und in der optimalen Reihenfolge aufgebaut werden kann. Den Turm von Rig 40, der mit allen Bestandteilen geschätzte 110 Tonnen wiegt (so genau weiß das keiner, schließlich wurde das Teil noch nie gewogen) und über 40 Meter lang ist, transportieren die Wilburg-Spezialisten wie immer: mit zwei Plattform-Trucks. Der Clou dabei: Der Lastwagen am Ende muss bei dieser Operation logischerweise rückwärts fahren. Wenn dessen Chauffeur nicht rangieren muss, schaltet er das Getriebe auf Neutral und lässt sich vom Vordermann abschleppen - nur Lenken muss der Rückwärtsfahrer, der zumindest die Ladung über das kleine Fenster in der hinteren Kabinenwand im Blick hat.
RIG 40 BOHRT SICH IN DIE NEUE ERDE. WIRD MAN FÜNDIG, FOLGT DIE PUMPE
Was ein ungeübtes Ehepaar binnen Minuten in die Scheidung treiben würde, erledigt Adiel Rodriguez mit seinem Kollegen ganz lässig, schließlich machen sie den Job nicht zum ersten Mal. Weil einige Ecken des Feldwegs zu eng sind, müssen sie auf dem Weg zum neuen Standort sogar noch ein paar komplizierte Rangiermanöver vollführen, um den Lindwurm jeweils in die passende Richtung zu bringen. Kurz vor dem Ziel parken sie dann in einem sandigen Stich, in den sich noch nie ein Grader verirrt hat, um die nachfolgenden Fahrer passieren zu lassen, die mit der ausladenden Basis (sub) und anderen Komponenten über die Piste schaukeln. Die müssen zuerst aufgebaut werden, ehe der eigentliche Turm oben auf die Basis gesetzt werden kann.
Nicht einmal einen Tag braucht die Truppe für den Ab- und Wiederaufbau des Bohrturms, am nächsten kalten Morgen sind die Roughnecks wieder alleine auf ihrer Anlage. Und bohren sich in die Eingeweide von Mutter Erde, um dort den begehrten Rohstoff anzuzapfen. Wenn sie fündig geworden sind und das neue Förderloch komplett installiert ist, beginnt das Spiel von neuem. Dann rücken die "Möbelpacker" von Wilburg an und bringen Rig 40 zu einer anderen Adresse - ein Claim (Grund) irgendwo in der Wüste von New Mexico.
Richard Kienberger
HINTERGRUND: RISKANTE FÖRDERUNG PER FRACKING | Scheichs aus Amerika - dem Boden abgetrotzt
Seit einigen Jahren ist in den USA ein neuer Goldrausch ausgebrochen - aber es geht nicht, wie damals im Wilden Westen, um glänzende Nuggets. Sondern um das "schwarze Gold", nach dem die US-Bürger noch mehr dürsten als der Rest der Welt. In wenigen Jahren werden die Vereinigten Staaten wohl der weltweit größte Erdölproduzent sein. Dann wird aus dem amerikanischen Untergrund mehr Öl gefördert als aus den Wüsten Saudi Arabiens. Überdies, so lauten die Prognosen, werden US-Unternehmen zu Hause dann mehr Gas aus der Erde pumpen als die bisherige Gas-Großmacht Russland. In den letzten Jahren wurden neue, ausgeklügelte Fördermethoden erdacht und bis zur Praxisreife entwickelt. Im Prinzip hatte man bislang vor allem Vorkommen angezapft, in denen das fossile Rohöl wie ein unterirdischer See vorhanden war. Aber es gibt auch Lager, bei denen der Brennstoff in porösen Gesteinsschichten gespeichert ist (Ölschiefer, Schiefergas). Diesen riesigen Schatz beuten die Ölfirmen jetzt mit der "Fracking"-Methode (Hydraulic Fracturing) aus. Vereinfacht gesagt werden dafür zahlreiche kleinere Bohrlöcher in den Untergrund getrieben. Falls nötig, zunächst senkrecht in die Tiefe und danach horizontal weiter. Anschließend wird das Gestein mit extrem hohem Druck aufgebrochen, so dass sich das Rohöl/Gas sammelt und abgeführt werden kann. Häufig kommen bei diesem Prozess unterschiedliche Hilfsstoffe (zum Beispiel Wasserdampf oder chemische Verbindungen) zum Einsatz, um den Rohstoff aus dem Gestein zu lösen. Die Folgen für den malträtierten Untergrund, Grundwasser und Umwelt sind weitgehend unerforscht, weswegen Europa beim Fracking zögert, während die USA ungeachtet des Risikos längst bohrt. Details: www.northernoil.com/drilling-video
Interessant an der Geschichte: Das Fracking wurde vor allem von kleineren Unternehmen entwickelt und vorangetrieben - die Großen der Branche wie Exxon oder Mobil hinken hinterher. Aber bei den Mega-Gewinnen, die diese Unternehmen einsacken, kaufen die Öl-Giganten diese Pioniere eben auf. So oder so, für die Dieselritter und ihre Trucks gibt es in den nächsten Jahren noch genug Futter. Der neue Ölboom beschert der Transportindustrie gute Geschäfte. Von der Erkundung möglicher Förderstätten über den Transport des Bohr- und Förderequipments bis zum Nachschub von Betriebsmitteln, den Abtransport des Rohöls oder dem Bau von Pipelines sind jede Menge LKW im Einsatz.
RK/JR
KOMMENTAR | USA: Immer wieder überraschend
Ein Journalist sollte immer objektiv berichten und die eigene Meinung (und vielleicht auch Vorurteile) ausblenden. So lautet ein gängiger Grundsatz. In der Praxis jedoch fällt es nicht leicht, das immer durchzuhalten. Jeder Journalist hat sein eigenes Weltbild, und das fließt in irgendeiner Form immer in die Arbeit ein. Der Verfasser dieser Zeilen hat einige Jahre lang einen großen Bogen um die USA gemacht - nicht zuletzt wegen der umständlichen bis entwürdigenden Einreiseformalitäten, die stellenweise an Paranoia erinnern. Was übrigens keine exklusiv deutsche Meinung ist: Zahlreiche "Amis", die ich auf Reisen getroffen habe, vertreten zum Teil deutlichere Ansichten über die diesbezüglich geltenden Gesetze.
Aber die USA wären nicht die USA, hätten sie nicht immer wieder Überraschungen parat: Diesmal war ich 40 Minuten nach der Landung in Chicago mit allem durch. Immigration (professionell und freundlich), Zoll, Gepäck für den Weiterflug aufgeben. Wow! In Frankfurt hätte das mit Sicherheit erheblich länger gedauert. Auf der Tour durch Texas und New Mexico lief mir dann glücklicherweise keiner der dumpfen "Lautsprecher" von der Tea Party über den Weg. Statt der Rechtsaußen mit krudem, hinterwäldlerischem Weltbild traf ich zum Beispiel ein verwittertes Paar, das bei uns exotisch wäre, in den Staaten in dieser Form aber häufiger anzutreffen ist: Beide mit riesigen Harleys unterwegs und in fortgeschrittenem Alter - der Mann erzählte, er sitze jetzt schon mehr als 50 Jahren auf einem der Kult-Bikes und habe unter anderem den Zusammenstoß mit einem Elch überlebt. Seine Ansichten über amerikanische (Außen-) Politik? Vom Feinsten. Im Urteil über die Tea Party waren wir uns nach zehn Sekunden einig, über die mexikanischen Immigranten meinte der altgediente Biker: "Leute, die das fordern, sollten überlegen, was wäre, wenn wir wirklich alle Mexikaner über Nacht ausweisen und zurückschicken. Dann würden auf einen Schlag fünf Prozent der Bevölkerung fehlen - das wäre der Todesstoß für die US-Ökonomie." Eine Meinung, die gar nicht so selten ist in Amerika. Auch viele auf den Ölfeldern denken, dass die USA ohne mexikanische Arbeiter aufgeschmissen wären. Man muss nur direkt hinfahren, um solche Ansichten auch zu hören zu bekommen.
Die nächste Überraschung folgte ein paar Wochen später mit der US-Abhöraffäre: Vielleicht klappte die Einreise ja so schnell, weil die Amis eh' schon alles über mich wussten?