Der "Düsenklipper" ist der fliegende Teppich heutiger Urlauber nach Marokko, das sich selbst das "Land des Sonnenuntergangs" nennt. Man kauft Romantik und Abenteuer all-inclusive, reist bequem und billig - und was soll's: nicht ganz umweltfreundlich. Während die Urlauber ihr Ferienziel anfliegen, steuern Fernfahrer das Land seit Jahrzehnten auf Fernstraßen an. Sie erleben dabei den Wechsel von Landschaften, Baustilen und Kulturen.
Marokko ist nicht nur Urlaubsziel, sondern wichtiger Handelspartner der EU und der Schweiz. Über Jahrzehnte beförderten Schiffe die Waren nach Europa. Als Kinder freuten wir uns über die so eingetroffenen marokkanischen Apfelsinen zu Weihnachten.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren übernahmen zunehmend Fernlaster den Transport in oder aus den westlichsten der Maghreb-Länder Tunesien, Algerien und Marokko. Zugleich wuchs der Warenaustausch dank einer ausgeklügelten Fertigungslinie der Textil- und Teppichindustrie. Das waren und sind die von der EU subventionierten "Veredelungsverkehre".
Französische und Schweizer Transporteure waren auf diesem Gebiet schon sehr früh rührig. So auch die schweizerische Spedition Dreier AG aus Suhr im Aargau. Hansruedi Dreier, der Chef des 1905 gegründeten Unternehmens, hatte selbst in den frühen Sechzigern schon mit einem Saurer eine England-Linie aufgebaut.
Ab 1972 kam Marokko ins Programm. Sein Sohn Hans-Peter Dreier, inzwischen die dritte Generation, fuhr nach seiner Ausbildung zum Spediteur zeitweilig ebenfalls im internationalen Fernverkehr, darunter vielfach im seit 1972 durchgeführten Maghreb-Einsatz. Die so erworbene Erfahrung im internationalen Fernverkehr kommt ihm, dem europaweit angesehenen Logistikspezialisten und Firmenchef, bis heute zugute.
Das Problem der Textiltransporteure war das beschränkte Ladevolumen damaliger Lastzüge. Einen 38-, später 40-Tonner mit Gewicht und Volumen vollzupacken, war möglich, doch die relativ kleinen Fährschiffe über die Straße von Gibraltar stellten wegen niedriger Decks und unebener Einfahrten ein Problem dar. Wie andere Spediteure suchte und entwickelte auch Juniorchef Hans-Peter Dreier gemeinsam mit Lkw-Herstellern und Fahrzeugbauern ein passendes Fahrzeug.
SUCHE NACH DEM KÖNIGSWEG: VIEL VOLUMEN - VIEL GEWICHT
Die Aargauer, treue Iveco- und Volvo-Kunden, orderten 1988 einen Iveco Turbostar mit dem damals gerade präsentierten V8-Motor mit 476 PS, aufgerundet 480 PS, aus 17,17 Litern Hubraum. Bei dem Luft- und Rollwiderstand des neuen Lastzugs war die Leistung angebracht. Der luftgefederte Lkw hatte einen niedrigen Rahmen, einen entsprechend hohen Aufbau von Lanz + Marti und einen Dreiachsanhänger mit winzigen 17,5er-Reifen. Diesen hatte Kässbohrer in Ulm eigens nach Wünschen der Aargauer gebaut. Eine komplizierte Kurzkupplung verband das rund 120 Kubikmeter fassende Gespann. Der Iveco Turbostar war eigens für Chauffeur Heinrich Schnellmann, genannt "Sir Henry", ausgebaut und mit Hochdach versehen worden. Für den TRUCKER-Mitarbeiter und Autor war klar: Mit diesem ersten Turbostar 190-48 in der Schweiz und einem der ersten in Europa will ich mit nach Marokko fahren.
Der "hochnutzlastige Volumenzug" war für internationale Touren, vor allem jene nach Nordafrika, bestimmt. Die Bekanntschaft des Autors mit Vater und Sohn Dreier eröffnete die Möglichkeit zur Teilnahme an der Jungfernfahrt in die Nähe von Rabat, der Hauptstadt Marokkos. Im Vertrauen auf meine bisherige Fernverkehrspraxis luden mich die Schweizer als zweiten Chauffeur zur ersten Fahrt mit Heinrich Schnellmann ein. Auf einem zweiten Turbostar fuhren Hans-Peter Dreier und der auch nach 35 Jahren noch im Unternehmen tätige Beat Hunziker mit.
TREFFPUNKT: 7.00 UHR MORGENS AM GRENZÜBERGANG BACHGRABEN
Es dämmert noch, als ich frühzeitig am vereinbarten Treffpunkt, dem schweizerisch-französischen Grenzübergang Bachgraben, im Gewirr geparkter Lastwagen, nach den Dreier-Lkw suche und sie auch finde. Hans-Peter Dreier wartet schon, während die beiden Chauffeure Heinrich und Beat sich mit den Zollpapieren an den Abfertigungsschaltern gedulden müssen. Heinrich, genannt "Sir Henry", hat bei Würzburg Ballen mit Rohwolle geladen. Er wartete eher ungeduldig auf die Abfertigung seines Carnet TIR. Darin wurde der Verlauf des Warentransports vom Ladeort bis zur Entladung festgehalten.
Für den Laderaum, ob Planen- oder Kofferaufbau, galten strengen Aufbauvorschriften, deren Einhaltung durch eine für das Fahrzeug geltende Zollanerkenntnis bescheinigt wurde. An jeder Grenze brachte ein Zöllner des neu befahrenen Landes eine Plombe an. Im Fall des Dreier-Lastzugs, einem Planenzug, war durch in einem festgelegten Abstand angebrachte Ösen eine nicht unterbrochene "Zollschnur" mit einer Drahtseele gezogen. Die Enden kamen am Heck zusammen und wurden durch Zollplomben zusammengezogen, also verschlossen. An einem Tag wie dem unseres Treffens, an dem viel Andrang herrschte, musste der Fahrer zusehen, dass er den dafür befugten Zöllner erwischte, um dann letzte Formalitäten zu erledigen und endlich weiterfahren zu können. Bis zur Endverzollung der Waren in Tanger kamen so vier Plomben je Zollverschluss zusammen.
Hans-Peter Dreier, "Sir Henry" und Beat beherrschten das Verfahren bestens. Nach einer knappen halben Stunde rollen die Lkw bei St. Louis auf die französische Autobahn. Stolz sitzt Heinrich Schnellmann in dem neuen Flaggschiff der Spedition und grüßt entgegenkommende Chauffeure, die ihn am beleuchteten Namensschild erkennen. 480 PS aus gut 17 Liter Hubraum! Das war damals ein Wort. Der V8 begeisterte auch durch seinen satten, tief blubbernden Ton. Kurz hinter Belfort kann der Turbostar dann erstmals seine Qualitäten beweisen. Der V8 röhrt und Heinrichs Herz schlug höher. Dank für heutige Maßstäbe unglaublich hoher Drehzahl zieht der Turbostar bergan. Was für eine Fahrfreude! Und dann der großzügig bemessene Innenraum. Hans-Peter Dreier und Vater Hansruedi wussten, womit sie langjährige, zuverlässige Fachkräfte motivieren und belohnen konnten.
Die Fahrt führt durch das Rhônetal, entlang dem Mittelmeer an die spanische Grenze bei Le Perthus/La Junquera. Inzwischen sitze ich am Lenkrad und genieße den V8. Am langen Anstieg zum Autobahngrenzpunkt bei Le Perthus will ich "mal sehen, wie tief ich den Achtzylinder-Motor ziehen lassen kann". Der V8 zieht, hat aber kaum noch Leistung. "Sir Henry" stöhnte und ächzte vor Entsetzen. Als dann noch Kollege Beat und Hans-Peter mit dem 420er vorbeiziehen, bekommt "Sir Henry" fast eine Nervenkrise. Ich habe Erbarmen, schalte runter, hole den 420 wieder ein und wir erreichen als erste die Grenzabfertigung.
Bei zwei Fahrern je Lkw kommen wir noch bis Tarragona, wo wir an der Nationalstraße 340 an einer von einem Schweizer geführten Raststätte die Nacht verbringen. Am nächsten Tag führt die Fahrt auf der Autobahn weiter, an Valencia und Alicante vorbei. Dann folgen immer wieder Abschnitte der Nationalstraße, doch daneben wühlen sich schon Baumaschinen für die zukünftige Autopista durch die Landschaft. Nach Granada geht es in einem Tal steil nach Malaga hinunter und an Küstenstädten vorbei nach Algeciras, unserem Fährhafen und Ausgangspunkt zum afrikanischen Kontinent.
MIT DER "IBN BATUTA" ÜBER DIE STRASSE VON GIBRALTAR
Neben einem am Kai vertäuten Fährschiff stellen wir die Lkw ab und legen uns schlafen. Schon früh am Morgen kommt Bewegung auf. Wir nehmen in einer kleinen Bar ein kurzes Frühstück ein. Danach begeben sich Heinrich und Beat zur Erledigung der nächsten Formalitäten an die Abfertigungsschalter, während Hans-Peter Dreier die "Ibn Batuta", unser Schiff, aufsucht. Misstrauisch begutachtet er den geöffneten Schlund: "Nach meiner Rechnung passt das alles, aber die Auf- und Einfahrt erfordern viel Geschick." Als die ersten Sattelzüge im Schiffsbauch verschwinden, steigt die Spannung. "Sir Henry" rückt langsam vor, während Hans-Peter schon an der auf das Kai abgesenkten Auffahrt steht. Für gängige Lastzüge ist das kein Problem, aber für den in Höhe und Volumen ausgereizten Dreier-Zug schon. Langsam tastet Heinrich das Gespann vorwärts, nutzt das Spiel der Luftfederung und blickt immer wieder zu Hans-Peter, der von außen kontrolliert und Anweisungen gibt. Die Höhe passt, wenige Zentimeter Spiel bleiben nach oben.
Doch noch ist da die unter dem Lkw-Rahmen eingehängte Kurzkupplung. Und die kleinen Anhängerräder. Doch im gegenseitigen Blickkontakt schaffen Fahrer und Juniorchef die Auffahrt. Damit erweist sich die aufwendige Fahrzeugkombination der Aargauer endgültig als fähr- und Marokko-tauglich und zugleich als logistische Meisterplanung. Spezielle Logistikkonzepte mit eigens auf Kundenanforderungen zugeschnittenen Spezialfahrzeugen sind übrigens bis heute eine besondere Stärke der Dreier AG.
Endlich sind alle Lastzüge und etliche Pkw von Marokkanern, die in Spanien und vor allem Frankreich leben, aufgefahren und gesichert. Jetzt geht's erst einmal an Deck, um die Ausfahrt aus dem Hafen zu beobachten und vielleicht im Dunst den Felsen von Gibraltar zu erblicken. Bei einem zweiten Frühstück, einem "Z'nüni" auf hoher See, verbringen wir die nächste Stunde, um dann schon die sich nähernde Küste Nordafrikas zu betrachten. Am Horizont taucht Tanger auf, die Jahrtausende alte Stadt, mit ihren weißen Häusern und Gemäuern. Schnell nähern wir uns dem belebten Hafen. Matrosen werfen ein erstes Tau zu einem Motorboot hinüber, das es an das Fährkai befördert. Bald hat die "Ibn Batuta" festgemacht, und die ersten Fahrzeuge rollen an Land. Auch Beat und Heinrich stehen bald in der vor einer Brückenwaage stehenden Reihe und fahren danach in eine Warteposition für die Einfuhrabfertigung. Ich begleite Hans-Peter Dreier derweil zur Zollagentur, die seit Jahren für das Unternehmen arbeitet. Heute hat die Dreier AG längst eine eigene Niederlassung in Tanger und setzt von Marokko aus auch dort zugelassene Fahrzeuge ein. Damit fängt sie den vor allem für schweizerische Firmen extremen Kostendruck im internationalen Fernverkehr auf.
UNTERWEGS IN MALERISCHEN, ORIENTALISCHEN LANDSCHAFTEN
Am Spätnachmittag ist die Einfuhrverzollung der Ware abgeschlossen, und die beiden Lastzüge verlassen den Zollhafen. Die Planung lässt eine Nachtruhe in Tanger zu. Am Abend tauchen wir in eine orientalische Umgebung ein. Enge Gassen, hier ein Markt, ein Souk, dort traditionelle Handwerker und dann ein erstes Essen nach Landessitte.
Früh morgens starten wir dann zur letzten Etappe unserer Fahrt, noch gut 200 Kilometer. Die breite Fernstraße in Richtung Rabat führt durch Hügelland. Links und rechts des Asphaltbands holen junge Frauen und Kinder mit Krügen und Kanistern Wasser aus Bewässerungskanälen. Auf Wegen gehen oder reiten andere querfeldein von Ortschaft zu Ortschaft oder zur Feldarbeit. An der viel befahrenen Straße bieten an von Palmen beschatteten Parkplätzen Restaurants Speisen und Getränke sowie Händler bunt bemalte Töpferwaren an. Ich sitze neben Hans-Peter bei Heinrich im Turbostar und fotografiere. Das hätte ich an einer Straßenkreuzung besser sein lassen. Ein Polizist, der dort den Verkehr regelte, stoppt uns umgehend mit einem grellen Pfiff. "Das gibt Ärger", stöhnt Hans-Peter. "Ihr habt mich fotografiert, das ist verboten", schimpft der Polizist. Also rechts an den Straßenrand! Hans-Peter spricht Französisch und verhandelt, nennt den Namen des Kunden und dessen Direktors sowie namhafte Geschäftspartner und besänftigt schließlich den Ordnungshüter.
Nach weiteren Kilometern wird das Land flach und am Horizont taucht der blaue Atlantik auf. Der Verkehr wird dichter, Palmen- und Korkeichenhaine säumen die Fahrbahn. In der Ferne tauchen die Häuser von Rabat auf. Zur Feier des Tages erlauben wir uns einen Abstecher zur historischen Stadtmauer und zu einem der eindrucksvollen Baudenkmäler. Schließlich wollen wir ja ein paar Eindrücke von unserer Fahrt mit nach Deutschland und in die Schweiz bringen.
Die Ankunft bei der Teppichfabrik bei Rabat verzögert sich dadurch nicht erheblich. Angestellte begrüßen uns und bestaunen Heinrichs neuen Lastwagen; ihn selbst kennen sie ebenso wie den Juniorchef und Beat schon seit Langem. Am nächsten Morgen entladen junge Männer die schweren Wollballen mit Staplern und bringen sie in Hallen, in denen sie aufgeschlitzt und fürs Färben vorbereitet werden. Dazwischen sitzen Arbeiterinnen und verpacken fertige Teppiche. In einer weiteren Halle gleiten die Wollfäden durch riesige Webstühle, an denen junge Frauen großflächige Teppiche weben. Am Rand der Halle kontrollieren Facharbeiterinnen die Waren auf ihre festgelegte Qualität.
Kaum ist der erste Lkw entladen, bringen Arbeiter großformatige, in rutschige Folie verpackte Exportware. Unter Heinrich Schnellmans Anweisung und Aufsicht stellen sie diese entlang den Bordwänden aufrecht, um anschließend längs geschichteten Teppichrollen Halt zu geben. Schließlich geht es wieder über gut 2500 Kilometer zurück zum Anbieter der Ware auf dem deutschen Markt.
DAUERHAFTE FREUNDSCHAFTEN UND ABSCHIEDE
Im Laufe der Jahre fuhr der TRUCKER-Autor noch weitere Marokko-Touren mit der Dreier AG. Es entstanden Freundschaften. So führte ihn ein Transport von Altreifen mit dem leider verstorbenen Hilmer Kolter aus der Schweiz nach Ceuta, einer spanischen Exklave, man kann auch Kolonie sagen, auf marokkanischem Boden.
Die Fahrt führte ebenfalls durch ganz Frankreich und Spanien nach Algeciras, dann aber mit einer eher Misstrauen erregenden Uraltfähre vorbei an Gibraltar an die nordafrikanische Küste. Die Altreifen wurden in Ceuta entladen, von jungen Männern in Pakete zu vier und fünf Reifen ineinandergeschlungen und dann über die damals noch halbwegs offene "grüne" Grenze als Schmuggelgut nach Marokko getragen.
Auf der Fahrt trafen wir in der Gegend von Granada Heinrich "Sir Henry", der inzwischen einen Volvo FH Globetrotter lenkte und weiterhin Marokko, aber dann auch Ungarn-Verkehre, fuhr. Heinrich war immer ein absolut zuverlässiger und hochmotivierter Fahrer, der aber an einer Herzkrankheit litt und daran leider starb. Viele Kollegen werden sich noch heute an Heinrich wie auch Hilmer erinnern. Gut ausgebildete und von ihrem Beruf begeisterte Fahrer wie sie tragen bis heute entscheidend zum Erfolg von Speditionen wie der Dreier AG und anderen schweizerischen Transportunternehmen bei. Mit Hans-Peter Dreier und den Familienmitgliedern der gleichnamigen internationalen Spedition verbinden den Autor bis heute freundschaftliche Bande. Gerlach Fronemann