Dilaver Cantürk ist ein umgänglicher, fröhlicher Mensch. Am Grenzübergang in Nickelsdorf, wo sich früher die Fernfahrer zu Dutzenden stauten, hat einer seiner Kollegen das Autoradio auf Disco-Lautstärke gedreht, türkische Melodien wummern über den Platz. Dila schnippt mit den Fingern und beginnt zu tanzen. Ein paar andere machen mit, es wird viel gelacht.
Dabei ist die Gruppe in einer durchaus ernsten Mission unterwegs: Am Vortag sind elf Sattelzüge mit viel Blaulicht von der IAA in Frankfurt gestartet, um Hilfsgüter an die türkischsyrische Grenze zu bringen. Es ist der größte Konvoi, der sich bislang aus Europa auf den Weg in das Krisengebiet gemacht hat. Die Ladungen wurden von der Organisation "Luftfahrt ohne Grenzen" (LOG) gesammelt und zusammengestellt: Lebensmittel, medizinische Ausrüstung, Rollstühle, Medikamente. LOG hat seine Wurzeln in der Fliegerei und lässt Hilfsgüter normalerweise per Air Cargo ans Ziel bringen. Doch die 300 Tonnen, die es am Ende sein werden (in Istanbul stoßen noch einmal drei Trucks zum Konvoi) sind zu viel für den Transport mit dem Flugzeug. Deshalb hat Daimler dafür gesorgt, dass die Lieferung rollend ans Ziel in Gaziantep befördert wird. Der LKW-Hersteller hat aus dem Charter-Way-Vermiet-Pool Sattelzugmaschinen bereitgestellt und übernimmt die Kosten für die Reise. Weil Daimler keine Flügel verleiht, sondern Trucks, steht der Konvoi unter dem Motto "Wings on Wheels" (Flügel auf Rädern).
EINGESPIELT: DIE FAHRER VON EKOL SIND OFT FÜR DAIMLER AUF ACHSE
Gefahren werden die Actros-Sattelzugmaschinen von Mitarbeitern der türkischen Spedition Ekol. Die fährt auch im "richtigen Leben" für Daimler, und die Fahrer machen einen perfekten Job. Sie stellen sich problemlos auf die neuen Actros ein und bringen den Konvoi wohlbehalten ans Ziel, ohne den kleinsten Kratzer, ohne Reifenpanne ohne technischen Probleme, aber immer auf der Hut vor den Ordnungshütern in Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Schon zwei Stunden nach dem Start steht der Konvoi - trotz der auffälligen Beklebung hat ein BAG-Posten eines der Fahrzeuge aus der Kolonne gezogen und stört sich an Kleinigkeiten.
Richtig, Ordnung muss sein in Deutschland, alle Vorschriften müssen eingehalten werden. Deshalb nehmen es die Ekol-Fahrer auch ganz genau mit den Pausen: In Bulgarien, erzählen sie, müssen Ausländer horrende Strafen bezahlen, wenn die Kontrolleure einen Verstoß feststellen: "Wenn du da deine Lenkzeit um nur fünf Minuten überzogen hast, kostet das 1500 Euro Bussgeld." Ist auch verständlich, das Land braucht Geld, um beispielsweise das marode Straßennetz zu sanieren. Die Fahrbahnen in den EU-Mitgliedsländern Rumänien und Bulgarien spotten stellenweise jeder Beschreibung, in manchen Ecken dieser Länder hat man das Gefühl, hier sei seit dem Ende der sozialistischen Ära nichts mehr passiert: Allerorten begegnet man verrotteten Kraftwerken, Bahnübergängen, für die eine Querung im Schritttempo schon zu schnell ist, Häusern, hinter deren grauen Mauern Tristesse und Armut wohnen. - Von den Segnungen Europas haben die Menschen hier noch nicht viel mitbekommen.
Der Konvoi rollt bei Tag oder Nacht, je nachdem, wie es sich mit den Lenkzeiten ausgeht. In Istanbul dauert der Stopp etwas länger, weil es im Buswerk von Mercedes-Benz Türk eine Pressekonferenz gibt, bevor die Fahrer weiter zum Firmensitz von Ekol fahren. Dort wird gegessen, Mechaniker sehen sich vorsichtshalber eine Fehlermeldung in einem Actros an, geben aber schnell Entwarnung. Nächste Station ist das Lastwagenwerk in Aksaray. Die Voranmeldung bei den Kollegen dort hat irgendwie nicht richtig geklappt - trotzdem verlässt Werksleiter Klaus Pfeifer spontan eine wichtige Sitzung, um den Konvoi zu begrüßen. Ein symbolischer Akt, der die Fahrer freut: Normalerweise steuern sie das Ekol-Gelände auf der Rückseite des Werks an, an diesem Tag stehen sie vor dem Haupteingang und der Chef höchstpersönlich hat sich Zeit genommen für die "Wings on Wheels".
DILA UND SEINEN KOLLEGEN GEHT DAS SCHICKSAL DER SYRER SEHR NAHE
Von Aksaray aus sind es noch einmal knapp acht Stunden Fahrt bis nach Gaziantep. Auf den letzten Kilometern fährt der Konvoi wieder mit Polizeibegleitung. Blaulicht schneidet durch die Nacht und bahnt den inzwischen vierzehn Sattelzügen den Weg zum Zentrallager von Kizilayi. Der Rote Halbmond ist eine Schwesterorganisation des Roten Kreuzes und verwaltet die Hilfe für die Flüchtlinge in den Camps. In deren Zentrallager werden die Hilfsgüter abgeladen und später nach Bedarf auf die Flüchtlingslager verteilt.
Als die Sattelzüge neben dem Lager geparkt sind, lädt Frank Franke, Präsident von "Luftfahrt ohne Grenzen", die ganze Truppe in ein Kebap-Lokal in Gaziantep ein. Die Fahrer erhalten eine symbolische Urkunde, ein Souvenir, auf das sie stolz sind. Und plötzlich zeigt sich, dass Dila, der Tänzer, und seine Kollegen auch eine sehr nachdenkliche Seite haben. Die Türkei ist vom syrischen Flüchtlingsdrama am heftigsten betroffen, hält die Grenzen zum Nachbarland immer noch offen und beherbergt offiziell schon 200.000 Flüchtlinge. Das sind aber nur die, die in den streng abgeriegelten und bewachten Lagern untergekommen und dort registriert sind. Viel größer ist die Anzahl der Syrer, die aus welchen Gründen auch immer, außerhalb dieser offiziellen Krisenbewältigungs-Maschinerie in der Türkei leben. Sie sind bei Freunden oder Verwandten untergeschlüpft, schlagen sich irgendwo durch - oder fristen in wilden Camps eine erbärmliche Existenz. Man schätzt, dass sich momentan bis zu einer Million Syrer in der Türkei aufhalten.
All das ist den Ekol-Fahrern bewusst, und deshalb war ihnen enorm wichtig, wenigstens einen kleinen Beitrag zur Hilfe für die Vertriebenen zu leisten: "Ich habe für diese Reise extra meinen Urlaub unterbrochen," berichtet Dila. "Alle Kollegen haben großen Wert drauf gelegt, dabei zu sein. Es ist gut, wenn diesen Menschen geholfen wird. Außerdem war es für uns wichtig, dass wir die Tour erfolgreich zu Ende gebracht haben." Sein Kollege Cervet Yalçin stimmt zu, als Dila noch anfügt, dieser Konvoi sei etwas Besonderes gewesen, herausgehoben aus dem Alltag - selbst wenn sie sonst auch nichts anderes machen, als Lastwagen kreuz und quer durch Europa zu fahren.
Für die Trucker ist der Job an diesem Abend erledigt, sie sind zu Recht stolz auf ihre Leistung. Wir fahren am nächsten Tag ein paar Kilometer weiter zur Grenze bei Kilis. Die ist inzwischen dicht gemacht worden, nur noch "humanitäre Transporte" dürfen passieren. Der Grund sind heftige Kämpfe in einem Dorf, das nur wenige Kilometer von den Schlagbäumen entfernt ist. Gleich neben der Grenze gibt es ein wildes Camp, in dem einige Dutzend Flüchtlinge hausen. Die Zustände dort sind geradezu unbeschreiblich. Was die Menschen erlebt und durchlitten haben, sprengt jede Vorstellungskraft. In der Türkei sind sie vorläufig in Sicherheit - mehr aber nicht. Weil sie (noch) außerhalb des offiziellen Hilfsprogramms sind - das längst an seine Grenzen gestoßen ist - erhalten sie keinerlei Unterstützung. Ein Flüchtling erzählt, er habe keine Gelegenheit gehabt, zu duschen, seit er die Grenze zur Türkei überquert hat. 46 Tage ist das jetzt her. Kein Wunder, dass sich Krankheiten und Parasiten rasant ausbreiten. Ein anderer zeigt seine Schussverletzungen und Folterspuren. Die Syrer leben unter primitiven "Zelten" aus Plastikplanen, alten Säcken und dünnen Decken. Wie die Migranten den Winter überstehen sollen, ist ein Rätsel. An einem Übergang liegt ein angeschossener Syrer auf einer Trage und kämpft um sein Leben.
DER JUNGE BEGINNT ZU WEINEN: SEINE SCHWESTER LEBTE NUR FÜNF MONATE
Vor allem die Kinder leiden unter dem Krieg, der sie entwurzelt hat. Sie können nicht zur Schule gehen, medizinische Versorgung - zum Beispiel für die beiden kranken Jungen, von denen einer einen offenen Gaumen und der andere ein Loch im Herzen hat - ist nicht in Sicht. Zum Spielen haben sie nur Kieselsteine und dürre Äste. Ein Junge beginnt zu weinen, als er uns sein Fotoalbum zeigt - von den Verwandten und Freunden, die auf den Bildern zu sehen sind, sind viele tot oder verschollen. Seine kleine Schwester wurde nur fünf Monate alt, dann beendete ein Schrapnellsplitter ihr kurzes Leben.
Eigentlich wäre noch viel Hilfe aus dem reichen Teil Europas nötig, um die größte Not zu lindern. Doch anders als in der Türkei löst das Flüchtlingsdrama, das von den Vereinten Nationen als eine der schlimmsten humanitären Katastrophen klassifiziert wurde, im Rest Europas vorwiegend Schulterzucken aus. Es ist ein Bürgerkrieg, der im Gegensatz zu Naturkatastrophen viele Menschen kaum zu berühren scheint. Dabei sind bis jetzt fast schon so viele Syrer auf der Flucht, wie die Schweiz Einwohner hat. Zwei Millionen haben sich in die Nachbarländer durchgeschlagen, fünf Millionen sind Binnenflüchtlinge. Gut, dass es wenigstens diesen Konvoi gegeben hat - vielleicht finden sich ja doch noch einige Nachahmer.