Die Feuerwehrsirenen heulen. Sekunden später hört man in Siegsdorf, einem 8000-Einwohner-Ort im südöstlichen Bayern, Martinshörner aufheulen. Auf der nahen, viel befahrenen A 8 hat sich an diesem 14. Mai gegen 17.30 Uhr ein Lkw-Unfall ereignet.
In Fahrtrichtung München, zwischen den Anschlussstellen Siegsdorf-West und Bergen, ist ein mit Stahl beladener 40-Tonner von der Fahrbahn abgekommen und in den Graben gekippt. Unglücklicherweise ist wegen einer Baustelle die Autobahn in der Gegenrichtung Salzburg gesperrt, der Verkehr verläuft in beide Richtungen nur einspurig. Ein Fiasko: Nach München geht jetzt überhaupt nichts mehr. Dennoch muss man von Glück reden. Wäre der Lkw nach links gedriftet, wäre er in den Gegenverkehr geraten.
DER VERKEHR AUF DER A 8 STEHT,
DIE RETTUNGSKRÄFTE RÜCKEN AN
Die Feuerwehr Siegsdorf kämpft sich in Schlangenlinien durch die Rettungsgasse und erreicht als Erste die Unfallstelle am "Reichhauser Berg". Der Rettungsdienst entscheidet sich für eine parallel verlaufende Nebenstraße. Weitere Feuerwehren bleiben im Bereitstellungsraum vor der Autobahn stehen und sperren jetzt die A 8.
Minuten später befreien die Einsatzkräfte den verunfallten Fahrer. Es ist ein 42-jähriger Mann aus Slowenien. Er wird über eine Leiter herausgeholt. Er ist bei Bewusstsein, nur leicht verletzt und wird vom Rettungsdienst ins nahe Klinikum transportiert. Inzwischen ist die Polizei am Einsatzort und verschafft sich ein Bild.
Schnell besteht der Verdacht, dass der Mann angetrunken ist. "Die Kollegen vor Ort haben festgestellt, dass der Fahrer stark nach Alkohol riecht. Der Verdacht hat sich nach einer entsprechenden Messung bestätigt", erklärt Richard Altmutter von der Verkehrspolizeiinspektion Traunstein später. Altmutter hatte sich selbst im Fah- rerhaus des havarierten Lastwagens umgesehen und einige leere Bierdosen entdeckt: "Es roch da wie in einer Schnapsbrennerei." Der Mann hatte noch großes Glück, meint der Verkehrspolizist: "Gott sei Dank wurde er nur leicht verletzt und es ist sonst niemand zu Schaden gekommen. Das hätte ganz leicht ganz anders ausgehen können." Nachdem der Verletzte abtransportiert ist, lässt man die Fahrzeuge, die im gesperrten Autobahnabschnitt festhingen, die Unfallstelle passieren. Dann können die Aufräumarbeiten beginnen.
DIE BERGUNGSKOLONNE MIT
SECHS FAHRZEUGEN IST AUF DEM WEG
Um 18.10 Uhr rollt die Bergungskolonne des Abschleppdienstes Rigra Sengeleitner aus Siegsdorf an. Dem Bergungsleiterfahrzeug, einem Skoda Oktavia 4x4, folgen ein vierachsiger MAN-Abschleppwagen, ein 45-Tonnen-Mobilkran von Krupp, ein dreiachsiger Scania-Abschleppwagen mit Palfinger-34002SH-Kran, ein dreiachsiger MAN F2000 für den Abtransport des Aufliegers und ein Mercedes-Sprinter mit Anhänger als Werkstattwagen mit umfangreichem Bergeequipment. Nachdem der Juniorchef und Bergungsleiter Phillip Sengeleitner die Situation begutachtet hat, legte er mit seinen fünf Profis los.
Der Lkw liegt nicht waagerecht, sondern schräg im Graben. Die Entscheidung fällt, "auf Sicherheit" zu gehen, sodass sich das Gespann nicht ungewollt bewegt und die Mannschaft gefährdet. An der Antriebsachse der Actros-MP3-Sattelzugmaschine und an der Mittelachse des Kögel-Planenaufliegers werden spezielle Rad-Adapter montiert und die Achsen zum Rahmen gesichert. Dann werden Seile daran befestigt und mithilfe der Seilwinden der Bergungsfahrzeuge gesichert.
Erst jetzt dürfen die Männer an dem Lkw arbeiten. Sie bauen als Erstes den Federspeicher und die Kardanwelle aus. Danach entschließt sich der Bergungsleiter dazu, den schwierigsten und gefährlichsten Teil der ganzen Bergung zu starten: das Entladen der ungefähr 24 Tonnen Stahlbauteile vom liegenden Lkw. Diese Entscheidung trifft er, um den Auflieger nicht unnötig zu beschädigen. Als Bergeunternehmer, berichtet Sengeleitner, sei er angehalten zu Schadensminimierung. Würde man zuerst den beladenen Auflieger aufstellen, wäre dieser danach nur noch Schrott, weiß er. Die Stahlteile werden mit dem Mobilkran senkrecht auf die Fahrbahn gehoben und schonend auf Kanthölzer gelegt. Von dort verlädt sie der Kran des Scania auf die eigene Ladefläche und einen zusätzlich angeforderten Tieflader.
Die niedrigen Temperaturen und aufkommende Graupelschauer stecken dem TRUCKER-Reporter inzwischen in den Knochen. Für Phillip Sengeleitner und seine Männer sind solche Bedingungen Alltag - im Gegensatz zur Bergung selbst: "Keine Bergung ist wie die andere. Man hat immer mit verschiedenen Gegebenheiten und Schwierigkeiten zu tun. Aber nachdem unser Unternehmen schon 35 Jahre lang im Bergungsdienst ist - ich selbst seit 19 Jahren als Bergungsleiter - sind wir dank Erfahrung und guter Schulungen neuen Ansprüchen gewachsen."
Währenddessen hat sich die Feuerwehr um die rund 1000 Liter ausgelaufenen Diesel und das dadurch verunreinigte Erdreich gekümmert. Etwa 200 Meter unterhalb der Unfallstelle muss mehrmals eine Ölsperre verbaut und immer wieder ausgetauscht werden. Auf Anweisung des Wasserwirtschaftsamtes werden mit einem Mobilbagger rund 40 Kubikmeter Erdreich abgetragen und mit Kippern abtransportiert. Sie wurden eigens dafür mit einer Plane ausgekleidet, damit die Flüssigkeit unterwegs nicht auf die Straße gelangt.
Es ist inzwischen nach 21 Uhr, die Ladung ist geborgen. Jetzt kann der Lkw mithilfe der Seilwinde und dem Kran aufgestellt werden. Sengeleitner und seine Männer müssen nun ihre Fahrzeuge neu positionieren. Dann werden Lkw und Auflieger auf die Fahrbahn gehievt und von der Feuerwehr mit Wasser gereinigt, damit er beim sofort erfolgenden Abtransport keine Erde verliert.
AM ZUGFAHRZEUG IST SEH
HOHER SACHSCHADEN ENTSTANDEN
Erst jetzt kann die Autobahn wieder für den Verkehr freigegeben werden, mehr als sieben Stunden nach dem Unfall. Die Autos stauen sich noch tief in der Nacht auf mehrere Kilometer zurück. Auf der Umleitungsstrecke über Traunstein ist es ebenfalls zu Staus gekommen, wäre der Unfall tagsüber erfolgt, wäre das Verkehrschaos in der Region noch übler gewesen.
Am nächsten Tag wird die Ladung beim Abschleppunternehmen in Siegsdorf vom Transportunternehmer abgeholt werden. Sie kann unbeschädigt mit einem anderen Lkw die Reise an den Bestimmungsort fortsetzen. Der Sattelzug, bei dem der Schaden auf rund 100.000 Euro geschätzt wird, geht in den nächsten Tagen per Tieflader in die Slowakei zurück.
Wie es für den Lkw-Fahrer weitergeht, ist zu diesem Zeitpunkt offen. Gerhard Meier, Dienststellenleiter der Verkehrspolizeiinspektion Traunstein, versichert, dass den Mann bei einem Alkoholwert von über 1,6 Promille ein Strafverfahren in Deutschland erwartet. Ihn dürfte ein Fahrverbot in Deutschland von ein bis zwei Jahren erwarten, zudem wird vermutlich eine Geldstrafe verhängt. Die wird er wohl bezahlen - wenn er nicht möchte, dass per Haftbefehl in Deutschland nach ihm gefahndet wird.
TEXT und FOTOS: Hans Lamminger