Auf der B 287 bei Langendorf fährt ein 32-Jähriger mit seinem PKW gegen die Leitplanke. In Herscheid rast eine 44-Jährige quer über den Parkplatz eines Supermarkts - die Fahrt endet an einer Mauer. In Unterhaching fährt ein 25-Jähriger Schlangenlinie, kracht dann in ein entgegenkommendes Auto. Erst die Feuerwehr kann die verletzten Insassen aus dem Wrack befreien. Alle diese Unfälle haben eines gemeinsam: Die Unfallverursacher standen unter Medikamenteneinfluss. Und das sind keine Einzelfälle.
Nach Daten der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) beeinflusst rund ein Fünftel aller Arzneimittel das Reaktionsvermögen. Arzneimittel dürften für bis zu zehn Prozent der Verkehrsunfälle die alleinige Ursache oder zumindest dafür mitverantwortlich sein, schätzen Experten. Das Statistische Bundesamt verzeichnet in 2011 (vorl. Zahlen) insgesamt 1391 Unfälle mit Personenschaden, die sich unter dem Einfluss "anderer berauschender Mittel" (u.a. auch Drogen) ereignet haben.
Die Zahlen machen deutlich: Der falsche Umgang mit Medikamenten kann im Straßenverkehr schwerwiegende, wenn nicht tödliche Folgen haben. Trotzdem ist sich nicht jeder Autofahrer, aber auch nicht jeder Berufskraftfahrer, der Risiken bewusst.
Für gewerbliche Fahrer stellt sich ein zusätzliches Problem. "LKW- und Busfahrer stehen oft unter enormem Zeitdruck. Viele haben gar nicht die Möglichkeit, bei Beschwerden ihren Arzt zu konsultieren", weiß Allgemeinmediziner Dr. Andreas Schmidt. Die Folge sei dann die Selbstmedikation, also die Eigenbehandlung mit Medikamenten.
STRESS IM JOB: DER GANG ZUM ARZT BLEIBT AUS
Laut Stiftung Warentest werden etwa 80 Prozent der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel im Rahmen einer Selbstbehandlung gekauft. Aus seiner Praxis kennt Schmidt etliche LKW- und Busfahrer, denn er hat sich der Initiative "DocStop" angeschlossen (s. unten). "Es ist nicht so, dass Berufskraftfahrer die Gefahren von Medikamenten nicht kennen würden", weiß Schmidt, "doch wenn der Chef oder der Kunde Druck machen, fällt der Gang zum Arzt eben aus."
DEN ARZT GEZIELT ZUM RISIKO BEFRAGEN
Bei der langen Liste an Ausfallerscheinungen, die eine falsche Medikation nach sich ziehen kann, sollte in jedem Fall der Hausarzt oder Apotheker befragt werden. Ist die Einnahme der verschriebenen Medikamente für die Tätigkeit als LKW-Fahrer riskant? Welche Medikamente sind kombinierbar und welche nicht?
Einfache Tipps helfen zunächst weiter: Studieren Sie den Beipackzettel, beachten Sie die Wirkungsdauer des Medikaments, nehmen Sie keine Medikamente nach Ablauf des Verfallsdatums ein, nehmen Sie die Arznei ein wie vor geschrieben, lagern Sie sie kühl und dunkel, und nehmen Sie Medikamente nie mit Alkohol ein oder nachdem Sie Alkohol getrunken haben. Vorsicht gilt auch beim Kauf von Tabletten über Online-Apotheken. Die Nachfrage steigt, was auch schwarze Schafe anlockt. Hier ist auf Seriosität zu achten. So sind verschreibungspflichtige Medikamente bei einer vertrauenswürdigen Internet-Apotheke nur gegen Vorlage des Originalrezepts erhältlich. Auch sollte die Apotheke in Deutschland zugelassen sein. Es besteht andernfalls die Gefahr, gefälschte Produkte zu erwerben.
AUF NEBENWIRKUNGEN WIE SCHWINDEL ACHTEN
Auch wer sich an die Vorgaben hält, lebt beziehungsweise fährt nicht risikofrei. Denn wie stark ein Medikament die Verkehrstüchtigkeit einschränkt, hängt zum einen vom Arzneistoff selbst ab: der Dosis, der Darreichungsform und der Zeitspanne zwischen Anwendung und Fahrtbeginn. Zum anderen spielen Alter, Geschlecht und Gewicht des Patienten eine Rolle ebenso wie Grund- oder Begleiterkrankungen. Achten Sie deshalb auf Warnsymptome wie Müdigkeit, Verwirrtheit, Schwindel, Doppelwahrnehmungen oder verzerrtes Sehen. Wer sich unwohl fühlt, sollte sich nicht ans Steuer setzen.
Um im Ernstfall die Lage besser einschätzen zu können, sollten Berufskraftfahrer die negativen Folgen von Medikamenten kennen: Am bekanntesten ist die reaktionsverzögernde Wirkung bei rezeptpflichtigen Beruhigungs- und Schlafmitteln. Sie sollten grundsätzlich abends eingenommen werden. "Logischerweise verzögern Beruhigungs- und Schlafmittel immer die Reaktionszeit. Benzodiazepine gehören daher auch zu den Arzneimitteln, die am häufigsten zu Verkehrsunfällen führen. Setzen sich Benzodiazepin-Patienten hinter das Steuer eines Autos, ist das Unfallrisiko dadurch bis zu fünffach erhöht", erläutert Dr. Ursula Sellerberg von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Wie lange die Sedierung (Dämpfung von Funktionen des zentralen Nervensystems) als so genannter "Hang-Over" am nächsten Morgen anhalte, hänge von der Halbwertszeit des Wirkstoffs und von der Dosis ab.
JE NACH WIRKSTOFF ZUM TEIL 24 STUNDEN WARTEN
Für länger wirkende Substanzen wie Flunitrazepam (z.B. Präparat Rohypnol) gelte, dass 24 Stunden nach der letzten Einnahme kein Fahrzeug geführt werden darf. Rezeptfreie und auch pflanzliche Schlafmittel, z.B. hochdosierter Baldrianextrakt, könnten die Reaktionsfähigkeit jedoch ebenso einschränken wie die stärker wirksamen verschreibungspflichtigen. Allgemeinmediziner Dr. Schmidt warnt hinsichtlich der Schlafmittel vor gefährlichen Kombinationen: "Wer sie beispielsweise mit Mitteln gegen Schwindel nimmt, kann einen Horrortrip erleben. Konzentration und Reaktionszeit lassen nach, die Selbstüberschätzung steigt."
Auch Medikamente, die nicht zum Schlafen oder Beruhigen dienen, können einschläfernd wirken. Dazu gehören starke Schmerzmittel und Psychopharmaka. Dr. Sellerberg: "Generell muss der Patient nach Einnahme eines Psychopharmakons damit rechnen, dass seine Aufmerksamkeit beeinträchtigt ist. Dies kann entweder ein Symptom der Erkrankung, eine Nebenwirkung oder die Kombination aus beidem sein." Starke Schmerzmittel erforderten in der Einstellungsphase meist ein vollständiges Fahrverbot. Nehme der Patient sie längerfristig ein, müsse der Arzt entscheiden, ob er aktiv am Straßenverkehr teilnehmen dürfe.
Gutes Sehen ist eine Grundvoraussetzung für das Bewegen von Fahrzeugen. Folglich sollten Augensalben oder ölige Augentropfen unabhängig vom Wirkstoff nicht direkt vor Antritt einer Fahrt angewendet werden, weil die Arzneiträger den Blick verschleiern. Die Fahrsicherheit verringern außerdem Arzneistoffe, die die Pupillen erweitern oder verengen. "Patienten, die häufig nachts fahren, sind durch diese besonders gefährdet", gibt Dr. Sellerberg zu bedenken.
VORSICHT BEI BLUTDRUCK-SENKENDEN MITTELN
Risikoreich sind auch blutdrucksenkende Mittel, Insulin und Antidiabetika sowie alkoholhaltige Arzneimittel. Bei Patienten mit hohem Blutdruck kann es zu Blutdruckabfall und damit zu Schwindel und Benommenheit kommen. Diabetiker können durch ihre Medikamente in einen Unterzucker geraten, der wiederum Verwirrtheit, Zittern oder Sehstörungen auslösen kann. Grippetropfen, Immunstimulantien oder Hustentropfen enthalten fast alle Alkohol. In Zusammenhang mit anderen Arzneimitteln wie beispielsweise Schlafmitteln kann sich deren Wirkung vielfach potenzieren.
Gerade auch von Heuschnupfen geplagte Fahrer sollten sich nicht zu leichtfertig mit rezeptfreien Mitteln behandeln. Einige Wirkstoffe aus der Gruppe der Antihistaminika können müde machen und so die Verkehrssicherheit gefährden, teilt die Bayerische Landesapothekerkammer mit. Die Einnahme sollte zu einem Zeitpunkt erfolgen, an dem ihre schlafanstoßende Wirkung nicht zum Problem wird. Neuere Wirkstoffe hingegen haben keinen oder nur einen geringen Einfluss auf das Reaktionsvermögen. "Gerade in der Selbstmedikation sollte man sich intensiv in der Apotheke beraten lassen, dann kann der Apotheker das individuell beste Arzneimittel auswählen", so Dr. Volker Schmitt, Sprecher der Apotheker in Bayern. Bei einigen Krankheiten, wie Asthma oder einem erhöhten Blutdruck, sollten Antihistaminika nur nach Rücksprache mit dem Arzt angewendet werden.
BENÖTIGTE ARZNEI NICHT EINFACH SELBST ABSETZEN
Apotheker Schmitt warnt davor, die Mittel eigenmächtig abzusetzen. Das kann genauso riskant werden wie eine falsche oder über mäßige Dosierung. "Es ist gefährlich zu glauben, ohne die benötigten Medikamente 'verkehrstüchtiger' zu sein." Vom Bauchgefühl sollte sich niemand täuschen lassen. So führen z.B. Kombipräparate mit stimulierenden Substanzen wie Koffein kurzfristig zu einer subjektiv empfundenen Verbesserung. Man fühlt sich fahrtüchtig - ist es aber vielleicht gar nicht.
Am Ende gilt es deshalb für jeden Fahrer, sich beim Arzt oder Apotheker zu informieren, Irrtürmer auszuschließen und sich im Zweifelsfall nicht ans Steuer zu setzen, auch im eigenen Interesse. Wer will schon eine Ordnungswidrigkeit, Straftat oder gar einen Unfall riskieren?