Gefährliche Begegnungen" nennen Verkehrspsychologen brenzlige Situationen im Straßenverkehr, in denen es zwischen mehreren Verkehrsteilnehmern beinahe zum Crash kommt. Sie sind das perfekte Anschauungsmaterial im Seminar "Cool bleiben", das der TÜV Süd anbietet. Ziel ist es, zu lernen, wie man möglichst gelassen und sicher fährt.
"Aus der Analyse solcher Beinahe-Unfälle lässt sich vieles herauslesen und lernen", berichtet Seminarleiter Dominik Hammer im TRUCKER-Gespräch. Hammer ist ein erfahrener Verkehrspsychologe und Trainer, hat über 30 Jahre lang für den TÜV gearbeitet. "Höre ich von den Teilnehmern Sätze wie 'Man konnte den überhaupt nicht kommen sehen' oder 'Plötzlich zog der rüber', werde ich zum Beispiel hellhörig. 'Plötzlich' liegt immer im Auge des Betrachters."
Im Seminar lernen die Teilnehmer, die Gesamtsituation zu bewerten - also auch das eigene Verhalten. Die meisten Fahrer werden von sich sagen: Ich bin Profi. Aber stimmt das auch? War die Situation wirklich nicht vorhersehbar? Oder hätte man die Absichten des Beinahe-Unfallgegners vielleicht doch erkennen können, ja müssen? Gab es Anzeichen für einen beabsichtigten Spurwechsel? Geschah das Ganze in einer unübersichtlichen Verkehrssituation, wo besondere Vorsicht geboten gewesen wäre? Es gilt, sich auch an die eigene Nase zu packen: "Selbstreflexion" im Psychologen-Jargon. In welcher Stimmungslage befand man sich zu dieser Zeit? War man - emotional oder physisch - abgelenkt? Stand man unter Zeitdruck? Ist man vielleicht generell gegenüber SUV-Fahrern nicht ganz vorurteilsfrei?
WANN HANDELT EIN LKW-FAHRER PROFESSIONELL?
Die Fracht von A nach B zu bringen, ist heute eine komplexe Aufgabe, die Verantwortung, Eigeninitiative und Flexibilität erfordert. Die Unternehmen stecken oft viel Geld in die Technik des Lkw, in wirtschaftliche und umweltschonende Antriebe, Assistenzsysteme, ausgeklügelte Ladesysteme. Doch am Steuer sitzt immer noch ein Mensch. Je besser der weiß, wie er selber tickt, desto besser wird er mit den Belastungen seines Berufs umgehen können. Hier setzt das TÜV-Seminar an. "Wir erarbeiten und reflektieren, was Professionalität ausmacht", fasst der Psychologe zusammen.
Wichtig ist zunächst, sich klarzuwerden, in welchem Umfeld man sich während der Arbeit befindet und wie man sich dort verhalten kann und will. Hammer: "Das Handlungsfeld Straße ist ein Umfeld mit sozialen und mit physikalischen Risiken. Ganz klar: Hier ist absolutes partnerschaftliches Verhalten gefordert." Die gegenseitige Rücksichtnahme, wie sie in Paragraph 1 der StVO gefordert ist, wird damit begründet, dass der Straßenverkehr eine "gefährliche Veranstaltung" ist. Hammer: "Reaktionen auf Störungen müssen hier grundsätzlich anders aussehen als etwa innerhalb der Familie oder beim Sport."
WIE REAGIEREN, WENN EIN PKW-FAHRER "FOULT"?
Von dieser geforderten Rücksicht ist auf der Straße leider oft nichts zu spüren. Drängler, Raser, Spurwechsler, Parkplatz-Wegschnapper, Nicht-Überholen-Lasser sind Alltag. Wie soll man sich da verhalten?
Eine solche gefährliche Begegnung löst akuten Stress aus - und damit eine instinktive körperliche Reaktion (siehe Kasten). Akut "bedroht", reagiert der Mensch seit Urzeiten mit Flucht oder mit Kampf, so wie einst in der Steppe, wenn ein Nashorn auf den Jäger zugerannt kam. Auch heute, im "Zweikampf" auf der Straße, ist das nicht anders. Kampf oder Flucht liegen in den Genen. Wird es brenzlig, herrscht leider oft "Kampf": Es wird gehupt, geschrien, Gas gegeben, hektisch weitergefahren. Für den professionellen Lkw-Fahrer muss es heißen: Rückzug, Zurückhaltung. "Zurückfoulen, das geht im Straßenverkehr nicht", sagt Hammer, "das ist erstens gefährlich und zweitens unnötig." In persönlichen Beziehungen kann die Devise schon mal heißen: Wie du mir, so ich dir. Auf einen unfreundlichen Körpereinsatz kann es - im Sport etwa - schon mal ein Gegenfoul geben. Doch im Straßenverkehr funktioniert diese Strategie nicht. Hammer: "Wir befinden uns hier ja in einem anonymen System. Ein 'foulender' Pkw-Fahrer kennt den Lkw-Fahrer gar nicht und meint nicht ihn persönlich. Es geht hier nicht Mann gegen Mann." Deshalb sind Emotionen im Sinne von "Rache, Vergeltung" völlig unangebracht. Im Gegenteil, jetzt muss die persönliche Sicherheit Vorrang haben. Die einzige richtige Reaktion ist, defensiver zu fahren.
"DU ZIEHST IMMER WIEDER EINMAL DEN KÜRZEREN"
Das gilt insbesondere, wenn dicht aufgefahren wird. Für den Krisenfall - Vordermann bremst plötzlich - muss eine Fluchtmöglichkeit geschaffen werden, und zwar durch die Vergrößerung des Abstands nach vorn, lehrt das "Bleib cool"-Seminar. So gerät man nicht zwischen alle Fronten. Fachlich heißt diese Reaktion "safe distance control".
Der Klügere gibt nach: Nach diesem Motto zu handeln, macht einen Fahrer professionell. Es gilt, eine Besonderheit des Straßenverkehrs zu akzeptieren, nämlich: "Du ziehst immer wieder einmal den Kürzeren, der Sicherheit willen." Wer eine zu hohe Erwartung an das Geschehen auf der Straße hat, stresst sich damit selbst. Niemals wird es hier immer fair zugehen. Es sitzen nur Menschen am Steuer, auch wenn wir sie vielleicht aus momentanem Ärger als "Idioten" betrachten. Wer das berücksichtigt, auch mal Humor beweist und "Angreifern" souverän den Vortritt lässt, handelt professionell.
PRIVATLEBEN UND BERUF SIND ZWEI PAAR SCHUHE
Im Moment, in dem man den Lkw startet, heißt die Devise, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Das Motto: "Ich bringe die Ware sicher von A nach B. Ich handele professionell. Ich lasse Frust, Ärger oder Wut draußen vor der Tür, egal, ob ich mich über einen Pkw oder vorhin über meine Frau geärgert habe. Das Fahren ist eine sachliche Aufgabe. Emotionen haben da möglichst nichts zu suchen. Wenn sie doch entstehen, darf ich mich nicht von ihnen leiten lassen." Die innere Distanz und Trennung von Job und Emotion hilft, gelassen zu bleiben.
Auch "technische" Ablenkung gilt es zu vermeiden. Während der Lenkzeit ist die Fahrerkabine ein Arbeitsplatz, nicht das Wohnzimmer. Fragt Hammer Lkw-Fahrer, mit welchen fahrfremden Tätigkeiten sie sich am Steuer beschäftigen, gibt es immer wieder Aha-Erlebnisse: Das Navi programmieren, Papiere lesen, ein dick belegtes flutschiges Brötchen essen, eine Flasche aufschrauben? Wer den Blick abwendet und seine Hände vom Steuer nimmt, riskiert zu viel. Jeder Fahrer sollte eine rote Liste haben: Was kann ich mir während der Fahrt wirklich erlauben, und was mache ich auf keinen Fall?
Zu den wichtigsten Kompetenzen eines guten Fahrers zählt auch eine kritische Beobachtungsgabe. Um sich emotional zu wappnen, ist es hilfreich, bei jeder Fahrt die Stimmung auf der Straße auszuloten. Ist heute die Hölle los, fahren alle irgendwie bescheuert oder fließt der Verkehr ohne Probleme? Je nach Ergebnis sollte ein Fahrer bewusst entscheiden, worauf er sich einstellt. Potenzielle Gefährdungen lassen sich dann durch einen angepassten Fahrstil entschärfen. "Dynomene" erkennen, nennt Psychologe Hammer das, eine Wortschöpfung aus "Dynamit" und "Phänomen". Etwa eine komplizierte Straßenführung gepaart mit hoher Verkehrsdichte.
SOLLEN FAHRER MÖGLICHST VIEL AUSHALTEN KÖNNEN?
Das Seminarziel kann laut Hammer nicht allein darin bestehen, Fahrer so stressresistent und widerstandsfähig wie möglich zu machen, wenn dann Arbeitgeber sogar noch die Berechtigung dafür sehen, immer noch eins draufzupacken. In den Medien ist viel die Rede davon, dass die Resilienz der Arbeitnehmer gestärkt werden muss, damit sie Belastungen besser bewältigen. Ziel des Seminars ist in erster Linie mehr Sicherheit im Straßenverkehr.
Dazu braucht es natürlich auch realistische Zeitvorgaben. "Es ist wichtig", betont Hammer, "dass auch Verantwortliche für die Tourplanung teilnehmen, also ein Disponent, der Fuhrparkleiter, evtl. auch der Geschäftsführer."
Hier kommt das Thema Kommunikation ins Spiel, an der es in vielen Firmen mangelt. So sollte verbindlich vereinbart sein, wer wen wann zu informieren hat, um Stress zu vermeiden. "Früh intervenieren!", rät Hammer. Heißt: Gibt der Fahrer frühzeitig eine zu erwartende Verspätung bekannt und übernimmt der Disponent die weitere Kommunikation mit dem Kunden, entlastet das alle Beteiligten.
Das Seminar (Info: dieter.roth@ tuev-sued.de) ist leider nicht Bestandteil der BKF-Weiterbildung. Schade, denn mehr Gelassenheit bringt mehr Lebensqualität und mehr Sicherheit. Arbeitgeber, die damit arbeiten, profitieren von geringeren Versicherungsprämien und reduziertem Dieselverbrauch sowie geringerer Reparaturanfälligkeit der Fahrzeuge. SK
HINTERGRUND
Stress und seine Folgen
Von Stress spricht man, wenn eine Belastung den Menschen zu sehr beansprucht, wenn er zu wenige Ressourcen (Fähigkeiten, Möglichkeiten) zur Bewältigung hat oder sieht. Wie und wann man Stress erlebt, ist individuell.
Die Stress auslösenden Reize nennt man "Stressoren". Sie können zum Beispiel von außen kommen und physikalischer Natur sein (Lärm, Hitze), organisatorisch bedingt sein (schlechte Arbeitsorganisation, Zeitdruck) oder auch einen sozialen Hintergrund haben (familiärer Streit, Mobbing). Auch innere Stressoren (Stressverstärker) gibt es, etwa überhöhter Ehrgeiz oder Versagensängste.
In einer akuten Stresssituation wie einer Bedrohung reagiert der Körper reflexartig (Signale vom Gehirn) mit höherem Puls = verbesserte Durchblutung, höherer Muskelspannung und verringerter Gehirnleistung. Alarmstufe Rot: Der Körper soll flüchten oder kämpfen können. Ist die Situation vorbei, sollte die bereitgestellte Energie wieder abgebaut werden. Eine Soforthilfe sind kraftvolle Bewegungen wie Treppen laufen.
Dauerhaft anhaltender Stress und fehlende Entspannung und Bewältigungsstrategien gefährden die Gesundheit. Zu den Folgen zählen ein schwächeres Immunsystem, Schlafstörungen, Verspannungen, Depressionen, Verdauungsbeschwerden und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.